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10.10.2025 19:40

Gletscher weltweit in aussichtslosem Kampf gegen Klimawandel | ISTA-Studie in Nature Climate Change

Andreas Rothe Communications, Events and Science Education
Institute of Science and Technology Austria

    Gletscher wehren sich gegen die Klimaerhitzung. Sie kühlen die Luft, die ihre Oberfläche berührt. Aber wie lange noch? Die Pellicciotti Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) hat einen beispiellosen Datensatz mit weltweiten Beobachtungen auf Gletschern zusammengestellt und neu analysiert. Die Ergebnisse, veröffentlicht in Nature Climate Change, zeigen, dass die Selbstkühlung im nächsten Jahrzehnt ihren Höhepunkt erreicht. Dann beschleunigt die Gletscherschmelze.

    Thomas Shaw erinnert sich noch gut an diesen besonderen Sommertag im August 2022. Der Postdoktorand in der Gruppe von Francesca Pellicciotti am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) war in den Schweizer Alpen, mit blauem Himmel und angenehmen 17 Grad Celsius. Nur, er stand auf dem Glacier de Corbassière auf 2.600 Metern Seehöhe und sammelte Daten über den Zustand des Gletschers.

    Lässt der Klimawandel Gletscher kalt? Während die Temperaturen weltweit steigen, scheinen die Temperaturen nahe der Oberfläche der Gletscher hinterherzuhinken. Die massiven Gletscher im Himalaya blasen sogar kalte Winde ihre Hänge hinunter, um sich selbst zu kühlen und ihre Ökosysteme zu erhalten. Dieser seltsame Effekt ist jedoch keineswegs ein Indikator für ihre langfristige Stabilität.

    Die von Shaw geleitete neue Studie zeigt, dass diese Reaktion der Gletscher wahrscheinlich in den 2030er Jahren ihren Höhepunkt erreichen wird. „Je heißer das Klima wird, desto mehr kühlen Gletscher ihr eigenes Mikroklima und die lokale Umgebung im Tal ab“, sagt Shaw. „Dieser Effekt wird jedoch nicht lange anhalten. Vor der Mitte des Jahrhunderts wird es zu einer Trendwende kommen.“ Ab dann wird sich das Abschmelzen und die Fragmentierung der Gletscher verstärken und die Temperaturen nahe deren Oberfläche werden schneller ansteigen. All das wird ihren Rückgang beschleunigen.

    Große Gletscher und kalte Winde

    Es ist schwierig, die lokalen Klimaauswirkungen in den entlegensten Gebiete der Welt zu verstehen und ihre Entwicklung auf globaler Ebene zu kartieren. Oft fehlen schlichtweg die Daten. Das limitiert die Genauigkeit der Rechenmodelle, mit denen Wissenschafter:innen die Klimaentwicklung simulieren und Zukunftsprognosen erstellen. Als Pellicciotti und ihre Kolleg:innen zum ersten Mal die Daten sahen, die an einer 5000 Meter hohen Klimastation an den Hängen des Mount Everest gesammelt worden waren, trauten sie ihren Augen kaum. „Nach gründlicher Untersuchung verstanden wir, dass die Gletscher auf die Erwärmung der Luft im Sommer mit einem stärkeren Temperaturaustausch an der Oberfläche reagierten“, sagt Pellicciotti. Aufgrund der schieren Größe der Gletscher im Himalaya führt dies zu einer Abkühlung großer Luftmassen. „Diese großen, dichten Kaltluftmassen strömen dann unter dem Einfluss der Schwerkraft die Hänge hinunter, ein Phänomen, das als ‚katabatische Winde‘ bezeichnet wird.“ Bei anderen großen Gletschern weltweit zeigt sich ein ähnliches Verhalten.

    Wissenschafter:innen gehen neue Wege

    Nun wollte Shaw ein globales Modell jenseits der Einschränkungen der Datenknappheit entwickeln. Er entwickelte eine Methode, um abzuschätzen, wie lange Gletscher weltweit weiterhin den Klimaschock absorbieren würden. „Wir haben Daten aus früheren und aktuellen Projekten unserer Forschungsgruppe zusammengetragen, sie mit allen veröffentlichten Daten gepoolt und andere Forscher:innen gebeten, uns ihre unveröffentlichten Daten zur Verfügung zu stellen“, sagt Shaw. „Mit diesem neuen Datensatz haben wir die physikalischen Prozesse neu bewertet, um Trends und Muster zu finden. Damit haben wir auch ein statistisches Rahmenwerk entwickelt, das uns einen Einblick in die Entwicklung der weltweiten Gletscherabkühlung gibt.“

    Peak Cooling – die maximale Abkühlung

    Shaw und das Team stellten ein Verzeichnis mit stündlichen Daten von 350 Wetterstationen auf 62 Gletschern weltweit zusammen, die insgesamt 169 sommerlange Messkampagnen repräsentieren. Sie untersuchten insbesondere das Verhältnis der Temperatur nahe der Gletscheroberfläche zur Umgebungstemperatur – also ohne Gletscher – direkt über jeder Station und analysierten es über Raum und Zeit. „Wir bezeichnen den Temperaturunterschied als ‚Entkopplung‘, da er scheinbar im Widerspruch zur Erwärmung der Umgebungstemperaturen steht“, sagt Shaw. Sie zeigten, dass sich die Temperatur nahe der Oberfläche von Gebirgsgletschern weltweit im Durchschnitt um 0,83 Grad Celsius erwärmte, wenn die Umgebungstemperatur um einen Grad anstieg.

    Sie untersuchten auch die Gletschereigenschaften, die den Entkopplungseffekt am ehesten begrenzen, wie etwa das Vorhandensein einer durchgehenden Geröllschicht am unteren Teil eines Gletschers, und verfeinerten ihr Modell mit diesen Informationen. Indem sie Zukunftsprognosen modellierten, zeigten sie, dass dieser Kühleffekt zwischen den 2020er und 2040er Jahren seinen Höhepunkt erreichen wird, bevor der stetige Massenverlust der Gletscher zu ihrem großflächigen Rückzug führt und den Kühltrend umkehrt. „Bis dahin werden sich die erheblich geschwächten Gletscher wieder an die sich stetig erwärmende Atmosphäre ‚ankoppeln‘ und damit ihr Schicksal besiegeln“, sagt Shaw.

    Den Verlust akzeptieren und Klimamaßnahmen koordinieren

    Während die Daten eine düstere Zukunft für die majestätischen Wassertürme der Welt zeichnen, gibt es pragmatische Konsequenzen bei weiterer Klimaerwärmung. „In dem Bewusstsein, dass die Selbstkühlung der Gletscher noch etwas länger anhalten wird, könnten wir etwas mehr Zeit gewinnen, um unsere Wassermanagementpläne für die nächsten Jahrzehnte zu optimieren“, sagt Shaw.

    Die Forscher:innen sind sich jedoch voll und ganz bewusst, dass sie die Gebirgsgletscher der Welt weder retten noch wiederherstellen können. „Wir müssen den unvermeidbaren Eisverlust akzeptieren und unsere gesamten Anstrengungen darauf konzentrieren, die weitere Erwärmung des Klimas zu begrenzen, anstatt uns auf ineffektive Geoengineering-Strategien wie Cloud Seeding und die Abdeckung von Gletschern zu verlassen. Das ist so, als würde man ein teures Pflaster auf eine Schusswunde kleben. Die kommenden Jahrzehnte sind eine Zeit der Reflexion, des effektiven Wassermanagements und des Handelns, um das öffentliche Bewusstsein für den vom Menschen verursachten Klimawandel zu verändern.“ Die Forscher:innen betonen außerdem die Notwendigkeit, durch koordinierte und weltweite Klimapolitik Emissionen drastisch zu reduzieren, um menschliches Leben vor den unvorhersehbaren Auswirkungen der globalen Erwärmung zu schützen. „Jedes Zehntelgrad zählt“, sagt Shaw und wiederholt damit, was Wissenschafter:innen seit Jahrzehnten betonen.

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    Projektförderung:
    Dieses Projekt wurde durch Fördermittel aus den Marie Skłodowska-Curie Actions des EU-Programms „Horizon 2020“ (Grant agreements Nr. 101026058 und Nr. 101034413) unterstützt.


    Originalpublikation:

    Thomas E. Shaw, Evan S. Miles, Michael McCarthy, Pascal Buri, Nicolas Guyennon, Franco Salerno, Luca Carturan, Benjamin Brock & Francesca Pellicciotti. 2025. Mountain Glaciers will Recouple to Atmospheric Warming Over the 21st Century. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-025-02449-0
    https://doi.org/10.1038/s41558-025-02449-0


    Weitere Informationen:

    https://ista.ac.at/de/forschung/pellicciotti-gruppe/ Kryosphäre und Gebirgshydrosphäre Gruppe am ISTA
    https://ista.ac.at/de/news/wind-of-climate-change/
    https://www.nature.com/articles/s41561-023-01331-y


    Bilder

    Kalte Luft strömt an einem warmen Tag nach unten. Tsanteleina-Gletscher, Nordwestitalien.
    Kalte Luft strömt an einem warmen Tag nach unten. Tsanteleina-Gletscher, Nordwestitalien.
    Quelle: © Thomas Shaw | ISTA

    Eine Wetterstation wird auf dem Glacier de Corbassière in den Schweizer Alpen errichtet. Thomas Shaw blickt zum Grand Combin hinauf.
    Eine Wetterstation wird auf dem Glacier de Corbassière in den Schweizer Alpen errichtet. Thomas Shaw ...
    Quelle: © Pascal Buri


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geowissenschaften, Meer / Klima, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Kalte Luft strömt an einem warmen Tag nach unten. Tsanteleina-Gletscher, Nordwestitalien.


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    Eine Wetterstation wird auf dem Glacier de Corbassière in den Schweizer Alpen errichtet. Thomas Shaw blickt zum Grand Combin hinauf.


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