Ein winziges neuronales Netzwerk reicht aus, um den Tagesrhythmus der Fruchtfliege Drosophila melanogaster zu steuern. Wie Forschende der Universität Würzburg zeigen, genügen vier spezielle Nervenzellen, um die innere Uhr der Tiere anzutreiben.
Fast alle Lebewesen besitzen eine innere Uhr, die es ihnen ermöglicht, ihr Verhalten und ihre Körperfunktionen an den natürlichen Rhythmus von Tag und Nacht anzupassen. Dieser sogenannte circadiane Rhythmus wird von einem komplexen Netzwerk aus spezialisierten Nervenzellen gesteuert. Bei der Fruchtfliege, einem zentralen Modellorganismus für die Chronobiologie, besteht dieses Uhrennetzwerk aus etwa 240 Neuronen. Zum Vergleich: Bei Säugetieren, einschließlich des Menschen, sind es Zehntausende.
Diese Komplexität macht es zu einer Herausforderung, die genaue Funktionsweise des Taktgebers zu entschlüsseln. Wie diese Zellen zusammenspielen und wer im Netzwerk das Sagen hat, war deshalb lange Zeit unter ständiger Diskussion. Bislang galt in der Chronobiologie beispielsweise die feste Annahme, dass bestimmte, seitlich im Gehirn gelegene Neuronen die Rolle des Hauptschrittmachers übernehmen und das gesamte System synchronisieren. Eine neue Studie zeigt nun, dass das Fundament der Zeitmessung viel mehr aus einer kleinen Gruppe unterschiedlicher Uhrneuronen besteht und auch andere Neuronen in dieser die Funktion des Hauptschrittmachers übernehmen können.
Verantwortlich für diese Studie war ein Forschungsteam des Lehrstuhls für Neurobiologie und Genetik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) unter der Leitung von Prof. Charlotte Förster (Senior Professur für Chronobiologie), Erstautor ist Dr. Nils Reinhard, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Lehrstuhl. In der Fachzeitschrift PNAS – Proceedings of the National Academy of Sciences hat das Team jetzt die Ergebnisse veröffentlicht.
Weniger ist mehr: Ein Kern-Schaltkreis als Taktgeber
Um die grundlegenden Prinzipien des Uhrennetzwerks zu verstehen, verfolgte das Forschungsteam eine simple Strategie: Es untersuchte ein radikal vereinfachtes System. „Wir haben in unserem Experiment die innere Uhr so manipuliert, dass diese ausschließlich in einer winzigen Gruppe von vier spezifischen Neuronen aktiv war, von denen sich zwei in jeder Gehirnhälfte befinden“, erklärt Nils Reinhard. Die circadiane Uhr der restlichen rund 236 Uhrneuronen der Fliege wurde genetisch „stummgeschaltet“, diese besaßen also selbst keine funktionierende molekulare Uhr mehr.
Das Ergebnis war verblüffend: „Diese vier Neuronen allein reichten aus, um den grundlegenden Aktivitätsrhythmus der Fliege aufrechtzuerhalten“, so Reinhard. Tatsächlich zeigten die Tiere trotz dieser drastischen Reduktion ihr typisches Verhalten mit einer Aktivitätsphase am Morgen und einer am Abend welche auch in der Abwesenheit von äußeren Umwelteinflüssen bestehen blieben. Nach Aussage der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rüttelt dieses Ergebnis an den Grundfesten des bisherigen Modells, denn die vermeintlichen Hauptschrittmacher des Uhrnetzwerks spielten in diesem entscheidenden Experiment keine aktive Rolle als Zeitgeber.
Die Forschenden konnten zudem die exakten Signalwege identifizieren, mit denen diese vier Uhrneurone ihre Zeitinformation kommunizieren, wobei sie für Morgen- und Abendaktivität zwei unterschiedliche chemische Botenstoffe nutzen:
• Morgenaktivität: Hierfür nutzen die Neuronen das Neuropeptid CCHamid-1 (CCHa1).
• Abendaktivität: Diese wird über den klassischen Neurotransmitter Glutamat gesteuert.
Wie die Experimente des Würzburger Forschungsteams zeigen, besitzt dieser minimale Schaltkreis bereits alle notwendigen Werkzeuge, um den grundlegenden Tagesrhythmus zu orchestrieren. Und die Neurone welche zu diesem minimalen Netzwerk gehören, scheinen tief in der Entwicklungsgeschichte des Tieres verankert zu sein.
Eine Blaupause aus der frühen Entwicklung
Entscheidende Hinweise auf die Funktionsweise komplexer neuronaler Systeme kommen häufig aus der Entwicklungsbiologie. Das war auch bei dieser Studie der Fall: Die Analyse zeigte, dass die vier untersuchten Neuronen Teil eines Netzwerks von nur 18 Neuronen sind, das bereits im Larvenstadium der Fliege vollständig ausgebildet ist. Diese früh angelegten Nervenzellen bleiben bis ins Erwachsenenalter erhalten.
Daraus leiten die Forschenden eine zentrale Schlussfolgerung ab: „Dieses minimale Netzwerk bildet eine Art ‚Kernuhr‘, die bereits sehr früh angelegt wird und ausreicht, um die fundamentalen circadianen Rhythmen in den adulten Fliegen zu erzeugen“, sagt Nils Reinhard.
Die vielen zusätzlichen Uhrneuronen, die erst in späteren Entwicklungsphasen hinzukommen, dienen vermutlich hauptsächlich der Feinjustierung dieser Kernuhr: Sie sind für die Integration äußerer Umweltreize und die Modulation des minimalen Netzwerks zuständig. Sie ermöglichen es der erwachsenen Fliege, ihr Verhalten flexibel an komplexere Umweltbedingungen anzupassen, wie zum Beispiel jahreszeitlich bedingte Änderungen der Tageslänge.
Brückenschlag zwischen zwei konkurrierenden Modellen
Damit schlägt die Studie eine Brücke zwischen zwei bislang konkurrierenden Modellen: Sie zeigt, dass die innere Uhr sowohl eine klare Hierarchie mit einem Hauptschrittmacher besitzt als auch flexible netzwerkartige Eigenschaften zur Anpassung nutzt. Dieses Prinzip einer Kernuhr, die durch zusätzliche Modulation erweitert wird, könnte ein universelles Organisationsprinzip biologischer Zeitmessung sein, so Nils Reinhard.
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um Grundlagenforschung. Ihre Ergebnisse helfen, die fundamentalen Prinzipien zu verstehen, nach denen Uhrennetzwerke organisiert sind und funktionieren. Die Beobachtung, dass sich die Komplexität der inneren Uhr im Laufe der Entwicklung erhöht, ist kein Einzelfall. Eine Zunahme der Uhrneuronen wird auch bei anderen Insekten wie Bienen beobachtet. Selbst bei Säugetieren gibt es Parallelen: Bei ihnen kommen während der Pubertät neue Neuronen zum Uhrenzentrum im Gehirn hinzu. Das Modell einer „Kernuhr“, die schrittweise erweitert wird, könnte sich daher auch auf andere Organismen übertragen lassen.
Nils Reinhard, Lehrstuhl für Neurobiologie und Genetik, T: +49 931 31-84450, nils.reinhard@uni-wuerzburg.de
A functional clock in only two dorsal clock neurons is sufficient to restore the basal circadian activity pattern of Drosophila melanogaster. Nils Reinhard, Enrico Bertolini, Takuya Kuwahara, Manabu Sekiguchi, Dirk Rieger, Weihua Li, Paul H. Taghert, Taishi Yoshii, Charlotte Helfrich-Förster. PNAS, https://doi.org/10.1073/pnas.2506164122
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Biologie, Tier / Land / Forst
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch

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