Neue Studie
„Stahlschock“ könnte jährlich 50 Milliarden Euro Wertschöpfung kosten – Abbau von Stahlproduktion würde Resilienz der Wirtschaft schwächen
    
    
    Bis zu 50 Milliarden Euro jährlicher Wertschöpfungsverlust drohen der deutschen Wirtschaft, wenn sie ohne inländische Stahlproduktion in einen globalen „Stahlschock“ geriete. Das ist ein Szenario, bei dem aufgrund von geopolitischen Konflikten oder Lieferkettenproblemen große Stahlexporteure wie beispielsweise China ihre Ausfuhren nach Europa in kurzer Zeit erheblich drosseln würden – gewissermaßen die Schwergewichts-Variante der aktuellen Probleme bei Computerchips oder seltenen Erden. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie von Ökonomen der Universität Mannheim.* „Wirtschaftliche Resilienz für Deutschland und Europa setzt eine starke deutsche Stahlindustrie voraus, die zeitnah und breit auf klimafreundliche Produktion umstellt“, resümieren die Autoren Prof. Dr. Tom Krebs und Dr. Patrick Kaczmarczyk. Daher sei politische Unterstützung der Transformation in der Stahlbranche ökonomisch sinnvoll, bei Bedarf auch deutlich über die bisherigen Pläne hinaus. Dabei dränge die Zeit: Die an deutschen Standorten existierenden Koks-Hochöfen haben laut der Studie bis 2035 ihre technische Lebensdauer ausgeschöpft. Sie sollten durch CO2-arme Anlagen zur Direktreduktion ersetzt werden.    
Die von manchen als angeblich kostengünstiger verfochtene Alternative, Stahl weitgehend oder vollständig aus dem Ausland zu importieren, beruhe „auf der unrealistischen Annahme, dass globale Lieferketten immer reibungslos funktionieren und nahezu perfekter Wettbewerb auf den globalen Märkten vorherrscht“, warnen die Wirtschaftsforscher. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigten vielmehr, „dass gewisse Mehrkosten aus Gründen der Resilienz sich langfristig als die effizientere und stabilere Form der Produktionsorganisation erweisen können, auch wenn es bei einer kurzfristigen und statischen Betrachtung komparative Kostenvorteile geben mag.“ Noch hinzu kämen hohe soziale und politische Kosten, wenn allein in der Branche Zehntausende Arbeitsplätze wegfallen würden, räumlich konzentriert auf die Stahlregionen. 
„Antibiotika, bestimmte Chemikalien oder Chips für die Massenfertigung: jahrelang hieß es, solche vermeintlich simplen Produkte brauchen wir nicht mehr selber herzustellen, die kaufen wir billiger in Übersee. Vielfach stellt sich gerade heraus, dass das ein riesiger Fehler war“, sagt Christina Schildmann, Leiterin der der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. „Die Studie zeigt, warum wir diesen Fehler beim unverzichtbaren Werkstoff Stahl nicht wiederholen sollten. Zumal sich mit den notwendigen Investitionen in eine klimafreundliche Produktion zwei wichtige Ziele gleichzeitig erreichen lassen: Mehr Resilienz und nachhaltige Innovation.“     
Auf Grundlage verschiedener vorliegender Modelle analysieren Krebs und Kaczmarczyk eingehend, wie sich der Stahlbedarf in Deutschland und der EU in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird. Für Europa lässt sich eine jährliche Nachfrage im Korridor von 160 bis 180 Millionen Tonnen bis 2050 prognostizieren. Um den Bedarf verlässlich zu decken, leiten die Wirtschaftsforscher daraus eine langfristig notwendige Produktion von mindestens rund 40 Millionen Tonnen in Deutschland ab. Jeweils zur Hälfte „Primärstahl“, über CO2-arme Direktreduktion erzeugt, und „Sekundärstahl“, der in Elektroöfen aus Stahlschrott geschmolzen wird.
- Kapazitäten für 20 Millionen Tonnen „grüner“ Primärstahl notwendig, Investitionen für nur acht Millionen geplant -
Aktuell ist Deutschland der größte Stahlhersteller in der EU und mit rund 37 Millionen Tonnen Rohstahlerzeugung im Jahr 2024 weltweit auf Platz sieben. Von zentraler Bedeutung ist der Umstieg auf eine klimaschonendere Produktionsweise mittels Direktreduktionsanlagen. Pilotprojekte zeigen, dass die schrittweise Transformation technisch machbar ist – doch dafür sind stabile politische Rahmenbedingungen und gezielte Fördermaßnahmen erforderlich. 
Die Investitionen in neue Produktionsanlagen werden längst nicht im erforderlichen Maß getätigt, warnen Krebs und Kaczmarczyk. Nach den Berechnungen der Forscher besteht derzeit eine eklatante Lücke im Bereich der „grünen“ Stahlproduktion: Dem künftigen Bedarf von jährlich 20 Millionen Tonnen Primärstahl steht eine geplante Produktionskapazität von lediglich acht Millionen Tonnen gegenüber. Dies ist unter anderem auf die anhaltende Absage der Investitionspläne von Arcelormittal in Bremen und Eisenhüttenstadt sowie die aktuell unzureichenden Pläne von Thyssenkrupp in Duisburg zurückzuführen. „Deutschland muss daher den Ausbau der Produktionskapazitäten im Bereich des grünen Stahls deutlich beschleunigen und zusätzliche Investitionen anstoßen, wenn es einen angemessenen Beitrag zur Klimatransformation der europäischen Industrie leisten möchte“, schreiben Krebs und Kaczmarczyk. 
Sollte das nicht geschehen und sollten Deutschland und Europa künftig mangels nennenswerter eigener Stahlproduktion stark von Importen abhängig sein, würde ein „Stahlschock“ erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Die von den Forschern für dieses Szenario berechneten 50 Milliarden Euro an jährlichem Verlust von Wertschöpfung entsprechen 1,2 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Die Verluste setzen sich aus zwei Komponenten zusammen, die jeweils etwa zur Hälfte zum Gesamtverlust beitragen: Erstens müssten nachgelagerte Branchen wie die Bauwirtschaft, die Metallerzeugung, der Maschinenbau, die Elektrotechnik oder die Autobranche erheblich mehr für Stahl bezahlen. Dieser Kostenschub würde die Produktion und damit die Wertschöpfung in diesen Sektoren verringern. Zweitens würde die Krise auch die Einkommen der privaten Haushalte schmälern, was wiederum die Binnennachfrage beeinträchtigen würde. 
Als Einwand gegen den Erhalt der heimischen Stahlindustrie wird mitunter vorgebracht, dass Deutschland ohnehin von Importen abhängig sei, da das für die Primärstahlproduktion notwendige Eisenerz aus dem Ausland stammt. „Dieses Argument greift jedoch zu kurz“, erklären die Wissenschaftler. Eisenerz sei ein weltweit breit verfügbarer Rohstoff, dessen Handel auf stabilen und gut diversifizierten Märkten erfolge – anders als bei den Erzeugnissen der Stahlindustrie. Ebenso wenig überzeugen nach Analyse der Forscher Vorstellungen, die Stahlerzeugung innerhalb der EU nach Südeuropa zu verlagern, weil dort die Voraussetzung für die günstige Erzeugung von erneuerbaren Energien besonders gut sei. Zwar werde beispielsweise in Spanien in zusätzliche Kapazitäten investiert. Mit drei Millionen Tonnen sei der Umfang aber viel zu gering. Und die Idee, Teile der Wertschöpfungskette bei der Stahlproduktion auf unterschiedliche Länder aufzuteilen, vergrößere nicht nur Lieferkettenrisiken, sie koste auch Effizienz und mehr Energie, weil sie die enge technische Verzahnung der Prozesse vernachlässige.   
- Arbeitsplatzverluste würden Stahlregionen hart treffen -
Neben ökologischer Nachhaltigkeit und wirtschaftlicher Resilienz sind auch die Folgen für die Beschäftigten zu berücksichtigen, betonen die Forscher. Sollte die Stahlproduktion ins Ausland verlagert werden, hätte das erhebliche Arbeitsplatzverluste zur Folge. Da 42 Prozent der Beschäftigten in der Stahlindustrie über 50 Jahre alt sind, ist davon auszugehen, dass mindestens 30.000 der 70.000 Beschäftigten akut von Arbeitsplatzverlust und einem erschwerten Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt betroffen wären. Diese Verluste würden sich geographisch zu großen Teilen auf die fünf Standorte Bremen, Duisburg, Eisenhüttenstadt, Saarland und Salzgitter konzentrieren. Durch die Einkommens- und Nachfrageverluste wären dort indirekt weitere Arbeitsplätze bedroht.
„Angesichts historischer Erfahrungen mit industriellen Strukturbrüchen in den USA und Großbritannien sowie der Altersstruktur der Beschäftigten in der Stahlindustrie ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Betroffenen nach dem Arbeitsplatzverlust nicht gleichwertig wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden kann“, so die Wissenschaftler. Dies hätte erhebliche soziale und auch politische Konsequenzen: „Eine solche Wirtschaftspolitik wäre ein Konjunkturprogramm für die AfD in den betroffenen Regionen.“ Hinzu kommt, dass auch Beschäftigte in den nachgelagerten Branchen und in anderen Regionen betroffen wären. In den Industrien, die Stahl als Grundstoff nutzen, sind in Deutschland rund vier Millionen Menschen beschäftigt, was zwei Dritteln aller Industriearbeitsplätze entspricht.
    
Kontakt an der Universität Mannheim
Patrick Kazcmarczyk, Ph.D.
Kompetenzzentrum zur Transformationsforschung
Tel.: 0151-56426821
E-Mail: patrick.kaczmarczyk@uni-mannheim.de
Prof. Tom Krebs, Ph.D.
Professor für Makroökonomik und Wirtschaftspolitik
Tel.: 0621-181-1762
E-Mail: tkrebs@uni-mannheim.de
Kontakt in der Hans-Böckler-Stiftung
 
Christina Schildmann
Leiterin Abteilung Forschungsförderung
Tel.: 0211-7778-194
E-Mail: Christina-Schildmann@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de
https://www.vwl.uni-mannheim.de/media/Lehrstuehle/vwl/Krebs/Gruener_Stahl.pdf - *Patrick Kaczmarczyk, Tom Krebs: Grüner Stahl als zentraler Pfeiler einer resilienten Wirtschaft, November 2025.
    Merkmale dieser Pressemitteilung: 
     Journalisten, Wirtschaftsvertreter, jedermann
     Gesellschaft, Politik, Wirtschaft
     überregional
     Buntes aus der Wissenschaft, Forschungs- / Wissenstransfer
 Deutsch  
    

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