In Bielefeld gibt es schätzungsweise annähernd 2.500 wohnungslose Menschen, viele davon sind von Verelendung bedroht. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. In einer aktuellen qualitativen Studie zum Thema hat Prof. Dr. Tim Middendorf von der Hochschule Bielefeld herausgearbeitet, dass Menschen in Wohnungslosigkeit oft in einem Teufelskreis stecken: Ausgegrenzt von der Gesellschaft fehlt ihnen das Selbstwertgefühl, um Hilfe annehmen zu können. Es entsteht ein sich gegenseitig verstärkender „Exklusionsprozess“. Um die Ausgrenzung zu beenden, empfiehlt Middendorf Politik und Gesellschaft, mehr Aufklärung zu betreiben und Orte der Begegnung zu schaffen. Und mehr Wohnraum, versteht sich.
Bielefeld (hsbi). Der Verlust des Arbeitsplatzes. Eine Beziehung, die in die Brüche geht. Oder ein junger Mensch, der erstmals auf eigenen Beinen stehen muss, aber keine vernünftige Bleibe findet: „Es ist bekannt, dass die Gefahr, von Wohnungslosigkeit betroffen zu werden, oft dann stark ansteigt, wenn es für einen Menschen von der einen Lebensphase in die nächste geht“, sagt Prof. Dr. Tim Middendorf. Er kennt das Phänomen aus seiner beruflichen Vergangenheit: Vor seiner Zeit als Hochschullehrer und Wissenschaftler hat Middendorf über zehn Jahre in der Psychiatrie sowie in der ambulanten und stationären Jugendhilfe gearbeitet. „Wohnungslosigkeit ist in diesen Feldern immer etwas, mit dem viele Beteiligte konfrontiert sind. Denn irgendwann brauchen die jungen Menschen ihre eigene Wohnung. Wenn das nicht klappt, stehen sie ohne vernünftige Unterstützung schnell auf der Straße.“
Studie zu Wohnungslosigkeit in Bielefeld: sich gegenseitig verstärkende Exklusionsprozesse
Das Thema Wohnungslosigkeit beschäftigt Middendorf auch an der Hochschule Bielefeld (HSBI). Hier ist der Professor am Fachbereich Sozialwesen seit 2022 für das Lehrgebiet „Soziale Arbeit im Kontext prekärer Lebenslagen“ verantwortlich. Im Rahmen einer von der HSBI geförderten Forschungsprofessur hat er nun neben seiner Lehrtätigkeit eine qualitative Studie zum Thema „Wohnungslosigkeit in Bielefeld“ erstellt. Grundlage der Studie sind acht ausführliche Interviews, die Middendorf in den vergangenen zwölf Monaten mit Betroffenen, Vertreter:innen der Stadt und solchen verschiedener Hilfseinrichtungen geführt hat. Seine These: Bei der erfolgreichen Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit geht es nicht nur darum, den Mangel an ausreichend vorhandenen und individuell passenden Hilfsangeboten zu beheben. Auch die „sich gegenseitig verstärkenden Exklusionsprozesse“ müssten durchbrochen werden.
Welcher Art sind diese Exklusionsprozesse? „Viele wohnungslose Menschen ziehen sich immer mehr zurück, zum Beispiel aus Angst oder Scham“, erläutert der Professor. „Das geht so weit, dass sie sich selbst nicht mehr als Teil der Gesellschaft wahrnehmen, ja nicht einmal mehr als Individuum. Viele werden tagein, tagaus einfach ignoriert. Kontakt und Austausch mit anderen Menschen finden kaum mehr statt. Dies führt teilweise zu internalisierter Abwertung – also dazu, dass sie sich selber abwerten.“ Der damit einhergehende fortschreitende Rückzug aus der Gesellschaft wird dann noch weiter angeheizt durch die aktive Ausgrenzung (oder Exklusion), die die Betroffenen von der „Außenwelt“ erfahren. Ein Teufelskreis entsteht. Middendorf: „Wer auf der Straße lebt, muss heute andauernd damit rechnen, vertrieben zu werden. Der Hauseingang, der Schutz vor Regen bietet, muss geräumt werden, und bei der Errichtung von Notunterkünften gibt es teilweise hochkochende öffentliche Diskussionen.“ Letzteres geschah zum Beispiel erst kürzlich mit der Unterkunft im ehemaligen Handwerksbildungszentrum am Kleiberweg in Bielefeld, die mittlerweile wieder geschlossen wurde. „Solche Ablehnung kann einer weiteren Verelendung, einem weiteren Abrutschen in Suchtkrankheit oder Kriminalität Vorschub leisten“, so Middendorf
„Housing first“: Menschen erst „wohnfähig“ machen, hält Middendorf für den falschen Weg
„Wohnungslosigkeit ist ein multifaktorielles Geschehen“, sagt der Sozialwissenschaftler. „Es herrscht eine ausgeprägte Individuum-Umwelt-Interdependenz. Erfolgreiche Interventionen müssen neben persönlichen Hilfemaßnahmen auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene angesiedelt sein.“ Was kann das sein? Middendorf ist überzeugt, dass der Abbau von Stigmata zum Beispiel durch die Förderung von Begegnung und Aufklärung erreicht werden kann. „Statt sie von bestimmten Orten zu vertreiben, könnten diese Orte unter Mitwirkung der wohnungslosen Menschen sowie der Anwohnenden so gestaltet werden, dass sich alle dort sicherer fühlen und die Begegnung mit anderen Menschen einfacher wird.“ Es gibt Beispiele dafür, z.B. in Münster, wo einzelne Plätze so ausgestattet sind, dass sie im Sommer ausreichend Schatten spenden und im Winter vor Niederschlägen schützen.
Die wirkungsvollste politische Lösung, die sozusagen das Problem bei der Wurzel packt, ist allerdings die Schaffung von ausreichend Wohnraum, so Middendorf. Hier geht Bielefeld verschiedene Wege: von der Unterbringung durch Einrichtungen und Träger bis zur Beschlagnahmung von leerstehenden Wohnungen. „Dabei ist es nicht immer der passende Weg, Menschen zunächst in Hilfsangebote zu bringen. Gelegentlich kann es auch angebracht sein, als erstes die Menschen mit Wohnraum zu versorgen, wie beim Housing First“, sagt Middendorf. Die Menschen könnten dann aus dem gesicherten Raum heraus ihre Probleme erfolgreich angehen – Kontakt zum Gesundheitssystem aufbauen, Austausch mit den Behörden, Annahme von psychosozialer Hilfe, Arbeitsplatzsuche. Sammelnotunterkünfte seien für die Betroffenen, wie der Name schon sagt, allenfalls eine Notlösung während der schwierigsten Tage und Nächte. Hier, wo mangelnde Privatsphäre und nicht selten auch Kriminalität die Atmosphäre bestimmen können, kann niemand zur Ruhe kommen, geschweige denn einen klaren Gedanken fassen.
Zunehmend „stranden“ obdachlose Menschen aus Osteuropa in Bielefeld – EU-Ziele utopisch
In Bielefeld gibt es laut Wohnungsnotfallberichterstattung vom Sommer 2024 offiziell 2.475 wohnungslose Menschen. Tatsächlich sind es vermutlich viel mehr, weil die Stadt als Oberzentrum in der Region Anziehungspunkt für viele Betroffene aus dem Umland ist. In den Interviews, die Middendorf geführt hat, kam heraus, dass zunehmend Menschen aus Osteuropa, die zum Beispiel in der umliegenden Industrie gearbeitet haben und entlassen wurden, in Bielefeld „stranden“. Wer jedoch keine ortsansässige Adresse hat, wird unter Umständen an die Kommune verwiesen, wo er oder sie zuletzt gemeldet war. Diese Praxis sieht Middendorf kritisch: „Die Menschen haben einen gesetzlichen Anspruch auf ordnungsrechtliche Unterbringung.“
Tatsächlich hat das Europäische Parlament 2020 die Überwindung von Obdachlosigkeit in der EU bis 2030 beschlossen. Die Bundesregierung hat daraus unter dem Titel ,Gemeinsam für ein Zuhause‘ 2024 einen nationalen Aktionsplan abgeleitet, der ebenfalls das Ziel verfolgt, das Problem bis 2030 in den Griff zu kriegen. Die Wohnungslosenberichterstattung für das vergangene Jahr zeigt dennoch weiterhin ansteigende Zahlen.
Neue Forschungen des HSBI-Professors konzentrieren sich auf Jugendliche und junge Erwachsene
Auch in Bielefeld bleibt das Problem akut. Die vielfach getätigte Aussage „In Deutschland muss niemand im Freien schlafen“ ändert die komplexe Sachlage nicht, wenngleich es womöglich zahlenmäßig genug Notunterkünfte gibt. Wenn es nach Middendorf geht, müssen auch die sich gegenseitig verstärkenden Ausgrenzungsprozesse bei Maßnahmen gegen die Obdach- und Wohnungslosigkeit berücksichtigt werden. Im kommenden Semester will er an diesem Punkt weiterforschen und dabei den Fokus speziell auf Jugendliche und junge Erwachsene richten. Erneut werden Mitarbeiter:innen aus Verwaltung, Hilfeeinrichtungen und die betroffenen Menschen selbst interviewt. „Es gibt in Bielefeld viele junge Menschen in prekären Lebensverhältnissen. Für sie ist es besonders schwierig, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Es stellt sich die Frage, wie darauf unterstützend und nachhaltig reagiert werden kann“, so Middendorf. Denn, wie eingangs berichtet, Wohnungslosigkeit droht häufig dann in höherem Maße, wenn es von der einen in die nächste Lebensphase geht.
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Die Studie von Prof. Dr. Tim Middendorf arbeitet den Teufelskreis heraus, in dem viele wohnungslose ...
Copyright: K. Schradi/HSBI
Wer auf der Straße lebt, muss heute dauernd damit rechnen, vertrieben zu werden, zusätzlich ziehen s ...
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