Mit topographischen Methoden klassifizieren und erforschen Physiker*innen und Mathematiker*innen der Universität Konstanz, der ETH Zürich und CNR INO Trento (Italien) sogenannte „nichtlineare, getrieben-dissipative Systeme“ und deren schlagartigen Phasenübergänge. Wie das funktioniert, erklären sie anhand einer Berglandschaft.
Stellen Sie sich vor, Sie stünden auf dem Gipfel eines Berges. Von diesem Aussichtspunkt aus erblicken Sie malerische Täler und majestätische Bergrücken; Bäche schlängeln sich ihren Weg bergabwärts. Fällt ein Regentropfen irgendwo auf diese Landschaft, so wird die Schwerkraft ihn auf einer bestimmten Bahn nach unten ziehen, bis er schließlich im Tal ankommt. Diese Bahn, die der Tropfen entlangfließt, wird als Strömungslinie bezeichnet: eine Spur, welche die Wegstrecke des Wassertropfens angibt und die auf dem Gefälle der Landschaft basiert. Die Gesamtheit aller Strömungslinien in der Berg- und Tallandschaft ergibt eine topographische Landkarte, die wiederum die Struktur des Terrains widerspiegelt. Diese Struktur bleibt gleich, solange sich das Gelände nicht verändert; sie entspricht einer unveränderlichen Größe – einer „topologischen Invariante“, wie Physiker*innen sagen würde. Diese Invariante charakterisiert die Gesamtstruktur aller Strömungslinien, ohne auf lokale Einzelheiten einzugehen.
Nun stellen Sie sich vor, dass ein Ruck durch die Landschaft geht und sie sich verändert: Bergrücken verschieben sich, neue Täler entstehen, andere verschmelzen miteinander. Die Strömungslinien ordnen sich entsprechend neu an, formen ein neues Muster aus Wegstrecken und Verbindungslinien. Wenn wir die nun unterschiedlichen Muster von vorher und nachher miteinander vergleichen – wie zwei Landkarten, die wir nebeneinanderlegen –, dann wird sichtbar, wie sich die Topologie des Systems entwickelt hat, als sich seine grundlegenden Rahmenbedingungen änderten.
Von der Berglandschaft zur Physik und Mathematik
Was hat das Ganze mit Physik und Mathematik zu tun? Nun, nichtlineare physikalische Systeme wie die sogenannten „getrieben-dissipativen Systeme“ können in ganz ähnlicher Weise verstanden werden wie unsere Berglandschaft. Wenn Systeme wie MEMS-Oszillatoren (micro electro-mechanical system) angeregt werden, weisen sie unterschiedliche Schwingungszustände auf. In unserer Analogie entsprechen die Täler den stabilen, gleichmäßigen Schwingungen, die Bergrücken hingegen den instabilen Zuständen. Die Bäche, die den Berg hinabfließen und schließlich im Tal münden, verkörpern die Entwicklung des Systems hin zum Gleichgewicht. Phasenübergänge treten auf, wenn die Landschaft neu geformt wird, so dass die Täler und Bergkämme sich verschieben, verschwinden oder miteinander verschmelzen, wodurch die Strömungslinien des Systems neu arrangiert werden.
In einer Publikation in Science Advances stellt ein Forschungsteam der Universität Konstanz, der ETH Zürich und CNR INO Trento ein Rahmenwerk vor, um diese Veränderungen des physikalischen Systems zu erfassen. Mit diesem Rahmenwerk können solche Veränderungen auf einheitliche Weise klassifiziert und verglichen werden. In diesem Sinne lässt sich die „topologische Invariante“, die sich aus der festen Anordnung der Strömungslinien in der Landschaft ergibt, direkt in die Phasenstruktur eines Resonatorsystems übersetzen: Jeder stabile Schwingungszustand entspricht einem Tal in einer dynamischen Landschaft.
Topologie in der Physik
Die Forschungsgruppe unter Leitung von Oded Zilberberg untersucht, wie die Topologie eines Systems – also seine Gesamtstruktur, das Muster aller Strömungslinien – bestimmt, wie physikalische Systeme plötzlich ihr Verhalten ändern können. Die Topologie ist ein Teilgebiet der Mathematik. Sie erforscht Eigenschaften, die auch bei kontinuierlichen Veränderungen gleichbleiben. In der Physik erwies sich die Topologie als nützliches Werkzeug, um zu enthüllen, wie die globale Struktur eines Systems seine Dynamiken beeinflusst.
Nun sind die traditionellen topologischen Methoden auf lineare Systeme ausgelegt. Um jedoch auch die Komplexität eines nichtlinearen, getrieben-dissipativen Systems widerzuspiegeln, entwickelte das Team sein Rahmenwerk: Von der Topographie inspiriert, kartiert es die sinnbildlichen „Täler“, „Bergrücken“ und das Netz an Strömungslinien von physikalischen Systemen. In den hochdynamischen nichtlinearen Systemen sind die Strömungslinien aber keine langgestreckten Bäche, sondern können sich winden oder verwirbeln. Sie weisen dabei eine sogenannte Chiralität auf – eine „Händigkeit“ wie beim Gewinde einer Schraube, die angibt, ob eine Bewegung sich im oder gegen den Uhrzeigersinn abspielt. Diese Chiralität zu berücksichtigen ist wichtig, um das nichtlineare Verhalten präziser und umfassender topologisch einzuordnen.
Schlagartige Phasenübergänge
Das Forschungsteam stellt sein Rahmenwerk als neue Methode vor, um zu erfassen, wie nichtlineare Systeme sich während Phasenübergängen entwickeln – also während der plötzlichen Strukturveränderungen, wenn ein System von einer stabilen Anordnung in eine andere übergeht (wie der Ruck, der durch die Berglandschaft geht und sie dauerhaft verändert). Die Schlüsselfrage lautet dabei: Welche Merkmale bleiben unverändert, wenn sich die Landschaft des Systems verändert? Diese beständigen Merkmale, bekannt als topologische Invarianten, ermöglichen es, die Struktur und Stabilität des Systems besser zu verstehen.
Im Gegensatz zu graduellen Veränderungen einzelner Parameter geschehen diese Phasenübergänge schlagartig. Ein physikalisches System kann für eine lange Zeit stabil bleiben, um dann plötzlich in ein neues Verhaltensmuster umspringen. Oded Zilberberg vergleicht dies mit dem Hinaufsteigen einer Leiter: Das System bewegt sich nicht gleichmäßig hinauf, sondern steigt sprunghaft von Stufe zu Stufe. Das Forschungsteam möchte ergründen, wie diese Sprünge geschehen – und wie die nun veränderten Zustände doch über topologische Invarianten verbunden bleiben. „Uns geht es nicht nur darum, Invarianten zu identifizieren“, unterstreicht Greta Villa, Doktorandin in der Arbeitsgruppe von Oded Zilberberg, „sondern vor allem darum, zu verstehen, wie eine stabile Konfiguration in eine andere übergeht.“
Das Bild der Berglandschaft ist freilich nur eine Analogie, um das Konzept zu verstehen. In der Praxis ist es aber für eine breite Spanne an Anwendungen relevant. Die Forschungsergebnisse sind wichtig für die Photonik, Mechanik, Elektronik sowie für Experimente mit Teilchen bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt („cold atoms“). So spielen zum Beispiels MEMS-Oszillatoren, wie sie in den Experimenten der Arbeitsgruppe von Alexander Eichler an der ETH Zürich zum Einsatz kamen, eine Schlüsselrolle für Technologien wie Geräuschfilter in Mobiltelefonen, die dafür sorgen, dass Telefongespräche auch bei lauten Hintergrundgeräuschen noch gut verständlich sind.
Faktenübersicht:
• Originalpublikation: Greta Villa, Oded Zilberberg et al., Topological classification of driven-dissipative nonlinear systems. Sci. Adv. 11, eadt9311(2025).
DOI: 10.1126/sciadv.adt9311
Link: https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adt9311
• Gefördert durch: Schweizerischer Nationalfonds (SNSF), Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), ETH Zürich (Postdoctoral Fellowship grant), Provincia Autonoma di Trento (PAT).
Hinweis an die Redaktionen:
Ein Bild steht zum Download zur Verfügung: https://www.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2025_ab_Oktober/physik_nach_...
Bildunterschrift: Topologischer Phasenübergang in nichtlinearen, getrieben-dissipativen Systemen. Die Strömungslinien markieren die Bahnen, denen der getriebene Resonator folgen kann, deren „Landschaft“ und die Chiralität an den Anziehungspunkten, um die sich die Strömungslinien im oder gegen den Uhrzeigersinn winden.
Copyright: AG Zilberberg, Universität Konstanz
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Mathematik, Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch

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