Oldenburg. Schluss, raus, vorbei? Es heißt Abschiednehmen vom Naturalienkabinett im Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg. Nach 45 Jahren schließt der Raum, dessen Atmosphäre viele Oldenburger*innen sehr schätzen. Gleichzeitig ist er aus heutiger Sicht problematisch - insbesondere mit Blick auf Objekte aus kolonialen Kontexten. In den Wochen vom 6. Dezember 2025 bis zum 22. Februar 2026 gibt die Aktionsfläche RE:vision. Vom Staunen zum Verstehen Einblicke in den Prozess und die Hintergründe zur Schließung.
Aktionsfläche zur Schließung des Naturalienkabinetts
RE:vision. Vom Staunen zum Verstehen
6. Dezember – 22. Februar 2026
Hintergrund zum Prozess
Das Oldenburger Naturalienkabinett war als „Museum im Museum“ anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Museums im Jahr 1980 entstanden. Es sollte eine Vorstellung davon vermitteln, wie im 19. Jahrhundert gesammelt und ausgestellt wurde. Aus heutiger Sicht ist diese historische Sammlungs- und Ausstellungspraxis kritisch zu bewerten: Objekte aus kolonialen Kontexten werden ohne Erläuterung gezeigt, Beschriftungen sind veraltet oder rassistisch geprägt. Hintergrundinformationen zu naturkundlichen Beständen fehlen. Die Herkunftsgeschichten der Objekte sind unsichtbar. Hinter manchen Objekten stehen gewaltvolle Aneignungsprozesse. Zudem fehlen Perspektiven von Expert*innen aus den Herkunftsregionen.
Eine museumsinterne Arbeitsgruppe hat sich in den letzten Jahren mit dem Raum, seinen Deutungen und den kolonialen Verstrickungen auseinandergesetzt. Im Oktober hat das Museum ein Positionspapier zum Naturalienkabinett veröffentlicht.
„Der Impuls, diesen Raum zu schließen, kam aus dem wissenschaftlichen Team heraus. Verschiedene Drittmittelprojekte haben sich in den letzten Jahren intensiv mit unseren historischen Sammlungen, insbesondere der ethnologischen auseinandergesetzt. Hier arbeiten wir schon lange anders als es noch heute im Naturalienkabinett sichtbar ist“, sagt Jennifer Tadge Provenienzforscherin am Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg.
Erst im Oktober sind von Bund und Ländern Leitlinien zum Umgang mit dem kolonialen Erbe vereinbart worden. Laut diesen hat sich in der deutschen Museumspraxis inzwischen verfestigt, dass ein kulturell angemessener und verantwortungsvoller Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten erforderlich ist, ebenso wie Umsicht bei der Präsentation und Beschreibung der Gegenstände, bei der Darstellung von umstrittenen Narrativen und die Einbeziehung von Perspektiven aus den Herkunftsgesellschaften. All diesem widerspricht die Präsentationsweise im Naturalienkabinett.
Über die Aktionsfläche „RE:vision“
Mit der Aktionsfläche „RE:vision“ will das Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg sichtbar machen, welche Problematiken sich hinter den Exponaten verbergen, und lädt dazu ein, mitzudenken und die eigenen Sichtweisen zu hinterfragen.
Im Zentrum der Aktionsfläche stehen Objekte aus dem Naturalienkabinett. Sie werfen spotartig Licht auf die Themenfelder „Sammeln und Macht“, „Koloniale Aneignung und Ausbeutung“, „Sprache und Ordnung“, „Wissenschaft und Ethik“ sowie „Kooperation und Perspektivwechsel“. Ethnologische Objekte wurden bereits in den letzten Jahren nicht mehr im Naturalienkabinett gezeigt. Einige werden nun auf der Aktionsfläche durch indigene Perspektiven ergänzt und zeigen die Chancen und Perspektiven neuer kuratorischer Ansätze.
Wie geht es weiter?
Mit dem Ende der Aktionsfläche RE:vision. Vom Staunen zum Verstehen wird das Naturalienkabinett im Februar 2026 geschlossen. Es entsteht Raum für Neues.
Wie genau das Neue aussehen wird, das soll der sich anschließende Konzeptionsprozess zeigen.
„Auf jeden Fall soll der Raum lebendiger und partizipativer werden. Er soll Möglichkeiten bieten, auf aktuell relevante Themen zu reagieren. Diese können sich aus Forschungsprojekten, dem Museum oder aus Kooperationen heraus entwickeln“, sagt die Stellvertretende Museumsdirektorin Dr. Christina Barilaro.
Objektbeispiele
Vielen Museumsstammgästen dürfte die eindrucksvolle, rund 200 Jahre alte Tlingit-Maske von der Nordwestküste Amerikas bekannt sein. Zwischen 1835 und 1840 gelangte sie gemeinsam mit weiteren ethnologischen Objekten durch den Gouverneur der damaligen Kolonie „Russisch-Amerika“, Ivan Antonovič Kuprejanov, nach Europa. Bis 2023 wurde die Maske im Naturalienkabinett unkommentiert ausgestellt. Heute befindet sich das Landesmuseum Natur und Mensch im Austausch mit Herkunftsgesellschaften und Museen vor Ort. Ziel ist eine digitale Sichtbarkeit der Sammlung, die einen tiefergehenden Dialog über die Objekte und ihre Herstellungstechniken ermöglicht.
Im Naturalienkabinett leichter zu übersehen waren die hölzernen Milchgefäße (Nhunda) der Sukuma, der größten ethnischen Gruppe Tansanias. Die Gefäße kamen in den 1890er Jahren im Kontext der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika in die Sammlung. Durch eine aktuelle Kooperation mit dem Bujora Cultural Centre and Sukuma Museum werden nun Stimmen sichtbar, die bislang fehlten: Mitarbeitende des Sukuma Museums waren in Oldenburg zu Gast, wählten die Gefäße für die Aktionsfläche aus und betonten die nötige Kontextualisierung.
Naturkundliche Objekte, wie Riesenalk-Ei, Orang-Utan-Skelett oder das Horn des Breitmaulnashorns, erzählen auf der Aktionsfläche stellvertretend, wie durch Sammelwahn und Trophäenjagd nicht nur Privatleute, sondern auch Museen und Zoos, Verantwortung für den Rückgang von Tierarten bis hin zur Ausrottung tragen. Hinzu kommen Aspekte wie Schadstoffe in historischen Präparaten, die einen verantwortungsvollen Umgang notwendig machen – Informationen, die im bisherigen Naturalienkabinett nicht vermittelt wurden.
Videostatements von den Expertinnen Tanja-Aminata Bah und Dr. Pegah Byroum-Wand öffnen eine übergeordnete macht- und rassismuskritische Perspektive auf Museumsarbeit. Die Umsetzung der Videos wird aus dem Programm 360° - Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft der Kulturstiftung des Bundes gefördert.
Ein dekoloniales Tischgespräch, das der Verband Entwicklungspolitik Niedersachsen e.V. (VEN) entwickelt hat, lädt auf der Aktionsfläche dazu ein, die Spuren und Auswirkungen des Kolonialismus in unserer Gesellschaft zu entdecken und besser zu verstehen.
Begleitprogramm
Der an der Museumskasse ausleihbare „AktionsBeutel“ bietet Familien kindgerechte Denk- und Gesprächsimpulse, um gemeinsam zu Themen wie Recht und Unrecht, Besitz oder die Macht der Sprache ins Gespräch zu kommen.
Das erste „Werkstattgespräch“ findet am 13.12. um 14:00 Uhr statt, der erste „Kurator*innen-Dialog“ mit Provenienzforscherin Dr. Ivonne Kaiser am 20.12. um 11:00 Uhr. Regelmäßig samstags bieten diese beiden Formate auf verschiedenen Ebenen die Gelegenheit, Fragen zu stellen und ins Gespräch zu kommen. In Kooperation mit dem Arbeitskreis Koloniale Kontinuitäten Oldenburg sprechen Expert*innen aus den Bereichen Aktivismus und Wissenschaft in insgesamt vier Vorträgen. Alle Termine finden sich auf der Website des Museums unter www.naturundmensch.de
Ticketsystem ermöglicht Wiederkommen
Der Besuch der Aktionsfläche ist im Museumseintrittspreis enthalten. Mit dem Ticket ist einmalig das kostenfreie Wiederkommen zur Vertiefung möglich. Mit diesem Angebot verleiht das Museum seinem Wunsch Ausdruck, dass sich Museumsgäste in Ruhe und im eigenen Tempo mit den Themen der Aktionsfläche beschäftigen können.
Fokus Provenienzforschung/ethnologische Sammlungen
Jennifer Tadge
j.tadge@landesmuseen-ol.de
Dr. Ivonne Kaiser
i.kaiser@landesmuseen-ol.de
https://Positionspapier zum Prozess im Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg
https://Informationen zu den kolonialen Sammlungen
https://www.naturundmensch.de/themen/koloniale-kontexte
https://Leitlinien zum Umgang mit Kulturgütern und menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten (Oktober 2025)
https://kulturstaatsminister.de/bund-und-laender-vereinbaren-gemeinsame-leitlini...
Einblick in die Aktionsfläche RE:vision. Vom Staunen zum Verstehen.
Quelle: reinert fotodesign
Copyright: Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg
Tlingit-Maske aus Alaska. Sie ist heute Gegenstand des Dialogs mit den Herkunftsgesellschaften.
Quelle: reinert fotodesign
Copyright: Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kulturwissenschaften
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungs- / Wissenstransfer
Deutsch

Einblick in die Aktionsfläche RE:vision. Vom Staunen zum Verstehen.
Quelle: reinert fotodesign
Copyright: Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg
Tlingit-Maske aus Alaska. Sie ist heute Gegenstand des Dialogs mit den Herkunftsgesellschaften.
Quelle: reinert fotodesign
Copyright: Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).