Die Geschichte der Menschheit wäre ohne Zellulose–das Gerüst pflanzlicher Zellwände– kaum vorstellbar. Wir verstehen jedoch nicht vollständig, wie die Natur lange Zuckerketten zu jener geordneten Architektur verspinnt, die Zellulose ihre Stärke verleiht, und wir können diese Struktur industriell nicht nachbilden. Mit einem ERC Consolidator Grant untersucht Yu Ogawa, wie Proteine in Pflanzen, Algen und Bakterien Zuckerketten zu ultradünnen, hochgeordneten Fasern ausrichten und bildet zentrale Schritte dieses Prozesses im Labor nach. Das Projekt soll einen Bauplan liefern, um Zellulose von Grund auf herzustellen und ihre Architektur gezielt für eine biobasierte Wirtschaft zu gestalten.
Die Geschichte der Menschheit wäre ohne Cellulose – das Gerüst der Pflanzenzellwände – kaum vorstellbar. Man denke an Holz, das die ersten Feuer entfacht und frühe Behausungen getragen hat, an Papyrusrollen im alten Ägypten oder an Baumwollstoffe, die wir seit Jahrtausenden auf der Haut tragen. Und auch heute ist Cellulose allgegenwärtig: in Verpackungen und Baumaterialien, als Zusatzstoff in Lebensmitteln, Kosmetika und Arzneimitteln.
Wie so oft in der Natur wirkt das Grundrezept verblüffend einfach: Cellulose besteht aus Zuckereinheiten, die zu sehr langen, geraden Ketten verknüpft sind. Das wissen wir seit 1838, als Cellulose erstmals isoliert und unter diesem Namen benannt wurde. Trotzdem gelingt es uns bis heute nicht, die perfekt geordnete Architektur der Natur nachzubauen. Hinter dieser scheinbaren Einfachheit verbirgt sich ein Mechanismus, den wir noch nicht vollständig verstehen: Wie richten lebende Zellen diese einfachen Zuckerketten zu extrem dünnen, hochgeordneten Fasern aus? Bislang können wir nur das nutzen, was die Natur spinnt – wir gewinnen Cellulose aus Pflanzen, Algen oder Bakterien und verändern sie chemisch zu unzähligen Derivaten.
Unter dem Mikroskop: Wie aus Zuckerketten Fasern werden
Mit einem ERC Consolidator Grant ausgestattet, will Dr. Yu Ogawa das ändern. „Ich möchte verstehen, wie Proteine in lebenden Zellmembranen diese Fasern in genau dieser Anordnung spinnen – und daraus lernen, Cellulose im Labor wirklich von Grund auf zu bauen“, erklärt er.
Der international anerkannte Wissenschaftler hat 2024 seine Expertise zur Celluloseforschung in die Abteilung Nachhaltige und bioinspirierte Materialien eingebracht. Im ERC-Projekt ArCeS will sein Team gefrorene Proben von Pflanzen, Algen und Bakterien mit hochmodernen Elektronenmikroskopen im Nanobereich analysieren und daraus dreidimensionale Schnappschüsse der Zellwände gewinnen.
„Wir wollen den entscheidenden Moment sichtbar machen, in dem lose Zuckerketten anfangen, sich zu Bündeln zusammenzulagern und sich schließlich zu kristallinen Mikrofibrillen in der Zellwand zu formen“, sagt Ogawa. Mikrofibrillen sind extrem dünne, hochgeordnete Fasern, die der Cellulose einen Großteil ihrer mechanischen Stärke verleihen. Im nächsten Schritt verfolgt das Team, wie sich diese Fasern in vereinfachten Laborversuchen herausbilden – unter Bedingungen, die sich präzise einstellen lassen. So erkennen die Forschenden direkt, welche Faktoren die Bildung von Cellulose tatsächlich beeinflussen.
Ob in Biologie, Weich- und Polymerphysik, Materialwissenschaft oder nachhaltigem Ingenieurwesen – überall dort, wo Nanostrukturen eine Rolle spielen, kann ArCeS das Bild schärfen.
Natur nachbilden – und übertreffen: Cellulose von Grund auf spinnen
Doch das Potenzial des Projekts reicht weiter als nur zu erklären, wie Pflanzen Cellulose herstellen. Ogawa schaut auf die Natur, um Gestaltungsprinzipien zu finden, die eines Tages ganz neue technologische Lösungen ermöglichen könnten. ArCeS soll zentrale Elemente der natürlichen Cellulose-Spinnerei im Labor nachbilden. „Die Idee ist, die celluloseproduzierenden Proteine in unterschiedlichen Mustern auf speziell entwickelten Oberflächen anzuordnen – und dann zu beobachten, wie sich die Fasern verändern, die sie erzeugen“, erklärt Ogawa. „Anschließend nutzen wir Computersimulationen, um zu sehen, wie kleine Änderungen der Bedingungen die Struktur und Leistungsfähigkeit der Fasern beeinflussen.“
Die Plattform ist klein, ihr Potenzial dagegen groß: Langfristig weist sie auf deutlich nachhaltigere Wege im Umgang mit Cellulose. Die derzeitige industrielle Herstellung stützt sich auf aggressive Chemikalien und einen hohen Wasserverbrauch – und beschädigt dabei vor allem die geordnete molekulare Struktur, die natürliche Cellulose so robust macht. Die ArCeS-Plattform im Labor soll dagegen mit wasserbasierten Bedingungen nahe Raumtemperatur und biologischen Katalysatoren arbeiten und zeigen, dass sich Cellulose unter milden Bedingungen spinnen und ihre Architektur gezielt einstellen lässt. Das Team will gezielt Cellulose-Strukturen und -Morphologien entwerfen und untersuchen, die in der Natur nicht vorkommen – und ausloten, wie sie sich künftig nutzen lassen.
Langfristig könnten sich Ogawas grundlegende Einsichten durch geeignete Skalierung auch auf die Herstellung übertragen lassen: Gut ausgerichtete Mikrofibrillen würden es erleichtern, Cellulose wiederzuverwenden und so eine stärker zirkuläre, pflanzenbasierte Wirtschaft unterstützen. In den kommenden fünf Jahren will sein Team ein Material grundlegend neu denken, das menschliche Gesellschaften seit Urzeiten begleitet – und frische Impulse für eine nachhaltigere Zukunft geben
Dr. Yu Ogawa
Yu.Ogawa@mpikg.mpg.de
Dr. Yu Ogawa betrachtet im Elektronenmikroskop aus verschiedenen Pflanzen und Algen extrahierte Zell ...
Copyright: MPIKG
Aus Grünalgen extrahierte Zellulose-Mikrofibrillen
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Chemie, Werkstoffwissenschaften
überregional
Forschungsprojekte, Wettbewerbe / Auszeichnungen
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Dr. Yu Ogawa betrachtet im Elektronenmikroskop aus verschiedenen Pflanzen und Algen extrahierte Zell ...
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Aus Grünalgen extrahierte Zellulose-Mikrofibrillen
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