Der Nobelpreisträger Eric Kandel zu Gast bei der Oldenburgischen Landesbank und dem
Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst
Der Oldenburgischen Landesbank AG (OLB) und dem Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst ist es gelungen, mit Eric Kandel einen der bedeutendsten Hirnforscher der Gegenwart für einen Vortrag zu gewinnen. Am heutigen Donnerstag, dem 30. September 2004, spricht Kandel um 19.00 Uhr im Theater Kleines Haus in Delmenhorst (Max-Planck-Straße 3) zu folgendem Thema: "Gedächtnis und die biologische Basis der Individualität" (Memory and the Biological Basis of Individuality)
Der Vortrag findet im Rahmen der Veranstaltungsreihe "OLB-Forum Wissen und Zukunft" statt. Hintergrund der Veranstaltung ist eine von OLB und HWK gemeinsam ins Leben gerufene Institution, das OLB-Stiftungs-Fellowship. Finanziert von der OLB, werden hierbei Wissenschaftler von Weltruf für kürzere Zeit als Gäste ("Fellows") an das Hanse-Wissenschaftskolleg berufen, um die wissenschaftliche Debatte in der Nordwestregion zu stimulieren. Außerdem halten sie im Rahmen des OLB-Forums einen Vortrag für die interessierte allgemeine Öffentlichkeit. Eric Kandel ist der erste Träger dieses Fellowships. Für den Herbst 2005 liegt von Lord Ralf Dahrendorf (London) bereits die Zusage vor, zweiter Träger des OLB-Stiftungs-Fellowships zu sein.
Der Vortrag berührt folgende Themen: Zunächst gibt Eric Kandel einen kurzen Abriss der Geschichte der Gedächtnisforschung (die Lern- und Gedächtnisforschung ist jenes Feld, für das er im Jahre 2000 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie erhalten hat). Dann stellt er die molekularen Mechanismen dar, durch die der flüchtige Inhalt des Kurzzeitgedächtnisses in stabiler, sich selbst konsolidierender Weise in das Langzeitgedächtnis überführt wird. Diese Mechanismen zeigen, dass ein funktionsfähiges Gedächtnis ein wesentliches Element der persönlichen Identität darstellt. Sie zeigen außerdem, wie es möglich ist, durch Psychotherapie, also durch bloßes Sprechen, auf molekulare Vorgänge im Gehirn Einfluss zu nehmen und die Psyche von Patienten nachhaltig zu verändern. Im dritten und letzten Teil des Vortrags geht es dann um Untersuchungen an Mäusen mit Gedächtnisausfällen. Die zelluläre Basis des Gedächtnisses ist eine langandauernde Veränderung in der Größe und Wirksamkeit der Synapsen, den mikroskopisch kleinen Schaltstellen zwischen den Nervenzellen im Gehirn. Diese Untersuchungen sind auch für Menschen mit altersbedingten Gedächtnisdefiziten von Bedeutung, weil aus ihnen klar wird, wie es zu diesen Defiziten kommt, dann nämlich, wenn eine Gehirnstruktur namens Hippocampus nicht mehr richtig arbeitet und deshalb der Übergang von Gedächtnisinhalten vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis nurmehr stockend vorangeht oder ganz blockiert ist. Ebenfalls diskutiert der Redner, welche medikamentösen Therapien für Patienten mit Gedächtnisschwund oder leichter Demenz die Hirnforschung in der Zukunft möglicherweise wird bereitstellen können.
In der Biographie Eric Kandels spiegelt sich die größte politische Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts, denn er wurde 1929 in eine jüdische Wiener Familie geboren, die 1939 mit knapper Not in die Vereinigten Staaten emigrieren konnte. Wie er später in einer autobiographischen Skizze schrieb: "Meine traumatischen Erfahrungen während meines letzten Jahres in Wien" - nach dem sogenannten Anschluss durch die Nationalsozialisten im März 1938 - "waren bestimmend für meine spätere Beschäftigung mit dem menschlichen Geist, mit der Unvorhersehbarkeit seiner Motivationen, mit dem menschlichen Verhalten und der Persistenz von Gedächtnisinhalten". Nach Besuch der Schule in New York absolvierte er zunächst ein Studium der europäischen Geschichte und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts an der Harvard University. In dieser Zeit weckten Freunde Kandels Interesse an der Psychoanalyse, was für ihn zu einem weiteren starken Motiv wurde, sich der Untersuchung der biomedizinischen Grundlagen des menschlichen Geistes zuzuwenden. Deshalb setzte er ab 1952 seine Studien an der medizinischen Fakultät der New Yorker Universität fort, wo er 1956 auch promovierte. Seine medizinische Karriere begann Kandel an den Nationalen Gesundheitsinstituten (NIH) der USA in Bethesda (Maryland). Anschließend absolvierte er von 1960 bis 1962 in Boston seine Zeit als Medizinalassistent im Bereich der klinischen Psychiatrie.
Zugleich intensivierte er seine biologischen Forschungen an der Harvard Medical School. Er berichtet: "Ich wandte mich der Biologie des Gedächtnisses zu, weil ich nach einem wissenschaftlichen Problem suchte, das einerseits eine für die Psychiatrie bedeutsame Frage darstellt und sich andererseits mit Hilfe eines reduktionistischen Ansatzes bearbeiten lässt." Reduktionismus hieß für Kandel damals die Wahl eines möglichst einfachen biologischen Modells - in diesem Fall eines Wirbellosen, der Seeschnecke Aplysia -, an dem sich grundlegende Mechanismen untersuchen lassen, die sich so auch bei Wirbeltieren und dem Menschen finden.
Sein Fernziel, eine besseres Verständnis des menschlichen Geistes und seiner Deformation durch psychiatrische Krankheiten, hat er bei diesen Untersuchungen an Wirbellosen jedoch niemals aus den Augen verloren. Um diese Krankheiten behandeln zu können, muss man begreifen, dass sie ihre Basis in biologischen Funktionsstörungen haben. Für Kandel ist der psychiatrische Patient (wie jeder andere Patient und Mensch auch) "ein Bündel biologischer Funktionen". Aber, so fährt er fort, "man muss dabei berücksichtigen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. In einer wunderbaren und sehr besonderen Art und Weise ist jeder Mensch eine einzigartiges Individuum - ein einzigartiges Bündel biologischer Funktionen, wenn man so will. Das letzte und höchste Ziel bei der Verwendung eines reduktionistischen Ansatzes besteht nicht etwa nur darin, Dinge beiseite zu lassen, sondern auch darin, sie wieder zusammenzusetzen. Man muss daher gleichzeitig Reduktionist und Holist sein." Aufgabe einer Psychotherapie ist es, dem Patienten neue Lernerfahrungen zu verschaffen, falsche Verhaltensweisen, wie sie implizit in seinem Gedächtnis gespeichert sind, gewissermaßen umzuschreiben. So lernt der Patient "frühere funktionierende Verhaltensweisen aufs neue zu lernen und neue Freiheitsgrade in seinem Verhalten zu erwerben".
1965 wechselte Kandel als außerordentlicher Professor in die Abteilung Physiologie und Psychiatrie der Universität von New York. Seit 1974 arbeitete er als Professor für Physiologie und Psychiatrie der Columbia University und war gleichzeitig Direktor des dortigen Zentrums für Neurobiologie und Verhalten. 1983 ging er an die Columbia University in New York und forscht dort seit 1984 als leitender Wissenschaftler am Howard Hughes Medical Institute dieser Universität. Seit 1992 lehrt er zusätzlich am Fachbereich Biochemie und Molekulare Biophysik.
Neben dem Nobelpreis erhielt er außerdem unter anderem neun Ehrendoktorhüte, die Nationale Wissenschaftsmedaille der USA, den Lasker Award und den israelischen Wolf Prize. Er ist Mitglied der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften und zahlreicher weitere Akademien. Unter der großen Zahl seiner Zeitschriften- und Buchpublikationen ragt sein mit James Schwartz und Thomas Jessel verfasstes Lehrbuch der Neurowissenschaften heraus, das inzwischen in vierter Auflage vorliegt und auch ins Deutsche übersetzt wurde. Jeder Student der Biologie kennt es.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Biologie, Chemie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Informationstechnik, Medizin
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse
Deutsch
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