Sind Gesellschaft und Ärzte gerüstet für den demographischen Wandel?
Von der 12. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) e.V., Berlin, 28.-30.10.04
P r e s s e d i e n s t
Berlin, den 28. Oktober 2004 -
Die Menschen werden immer älter. Ältere Menschen sind zwar einerseits oft sehr viel leistungsfähiger, als allgemein angenommen wird, andererseits aber haben sie oft mehrere Krankheiten auf einmal ("Multimorbidität"). Krankheiten im Alter können immer besser behandelt werden. Doch gesellschaftliche und gesundheitspolitische Beschränkungen führen - sichtbar oder verdeckt - zu Ausgrenzung, mangelnder Aktivierung und Unterstützung sowie schlechterer Behandlung, als es eigentlich möglich wäre ("aging racism"). Die Chancen hingegen, die ein höherer Anteil von Älteren in einer Gesellschaft bedeuten kann, werden vernachlässigt, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, Prof. Dr. Dr. Gerald Kolb (Lingen/Ems)anlässlich der 12. DGG-Jahrestagung in Berlin.
Alle wissen es: Die Lebenserwartung steigt (Jahr für Jahr um 3 Monate), die Geburtenrate ist niedrig, die Alten werden immer älter, ein Ende ist über Generationen nicht abzusehen. Fast täglich wird über die demographische Entwicklung berichtet und geredet. Klar ist auch der Zusammenhang zwischen Demographie und Epidemiologie, also der Vorhersagbarkeit von Krankheitshäufigkeiten in bestimmten Altersstufen. Drei Problembereiche als die großen Herausforderungen unseres Gesundheitswesens sind schon jetzt sichtbar, und zwar für die nahe Zukunft:
° Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die derzeit noch die Erkrankungs- und Sterbestatistiken anführen,
° gefolgt von den Tumorerkrankungen, die aufgrund der steigenden Lebenserwartung deutlich zunehmen
° und die künftige Herausforderung der Demenzerkrankungen, die ebenfalls statistisch relevant
und damit typisch eigentlich nur für die hohen und höchsten Lebensaltersstufen sind.
Deutliche Fortschritte in der Gerietraie gibt es zum Beispiel bei der Krebsbehandlung, die alten Menschen Möglichkeiten (besonders bei Lymphknotenkrebs und Leukämien) eröffnet, die es bis vor wenigen Jahren noch nicht gab. Wenn auch nicht so "spektakulär", gilt dies auch in anderen Bereichen wie der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) oder bei Gefäßerkrankungen. Die Behandlungsmöglichkeiten werden immer besser, immer schonender, die Risiken auch für den älteren Patienten, auch für den multimorbiden, geringer.
Das Problem liegt also nicht in den medizinischen möglichkeiten, sondern in der systematischen Vernachlässigung des Themas "Alte".
Während im Herz-Kreislauf-Bereich Vorsorgestrategien wirksam sind und mittlerweile deutliche Erfolge auch in der Gruppe der Älteren zeigen, sind die Tumorerkrankungen im Alter in den Vorsorgestrategien (Krebsfrüherkennung) viel zu wenig beachtet oder werden als Problem verdrängt. Ältere Frauen gehen wesentlich seltener zur Brustkrebsvorsorge. Eine gezielte Aufklärung über das wesentlich höhere Risiko, aber auch über die guten, teilweise günstigeren Heilungs-chancen als bei Jüngeren existiert praktisch nicht. Ältere Patienten mit Darmkrebs werden nach der Operation seltener der notwendigen, sachgerechten zusätzlichen Chemotherapie unterzogen. Moderne Therapien, die oft nebenwirkungs-ärmer aber teurer sind, werden bei Alten viel seltener eingesetzt als bei Jungen.
Ein weiteres Beispiel: Bei Arzneimittelstudien vor der Zulassung werden fast nie Wirkungen und Nebenwirkungen bei älteren Patienten getestet, obwohl sie die Mehrzahl der potentiellen Anwender dieser Medikamente sind.
Aus solchen Zusammenhängen stammt auch der Begriff "Alters-Rassismus": In einer amerikanischen Studie - Ende 1999 publiziert im New England Journal of Medicine - wurde festgestellt, dass Alte qualitativ und quantitativ sogar schlechter behandelt werden als die "üblichen" sozial benachteiligten Gruppen.
Verschärft wird dieses Problem durch die alles überlagernde Kostendiskussion im Gesundheitswesen. Das flächendeckend und verbindlich eingeführte neue Vergütungssystem für Krankenhäuser ("Diagnosis Related Groups", DRGs), also Fallpauschalenvergütungen, sind ihrem Grunde nach ebenfalls nicht mit der Situation älterer Patienten vereinbar, die natürlich meist länger im Krankenhaus liegen müssen als jüngere. Die häufigeren Begleiterkrankungen bei älteren Menschen und Komplikations-Risiken werden im Fallpauschalen-Vergütungssystem eher als ökonomisches Risiko für das Krankenhaus angesehen. Waren Krankenhäuser vorausschauend und haben Abteilungen für Altersmedizin eingerichtet, so werden sie nun aufgrund der höheren Zahl älterer Patienten für ihr Engagement ökonomisch bestraft.
Auch im ambulanten Versorgungssystem mit "gedeckeltem" Budget, in der Praxis des Hausarztes und des Facharztes, sind alte Patienten aufgrund ihres höheren Medikamentenverbrauches nicht unbedingt "beliebt".
Die derzeitigen gesundheitsökonomischen Diskussionen betrachten also vergleichsweise kleine Probleme gegenüber der künftigen demographischen Herausforderung, so Prof. Kolb. Dies der Bevölkerung zu vermitteln, werde erheblichen Mut erfordern. Die Bereitschaft hierzu sei politisch offenbar noch unzureichend entwickelt.
Erschwert wird dies in nächster Zukunft zusätzlich durch die Situation bei Qualifikation und Ausbildung der Ärzte. Zwar wurde mit Einführung der neuen Approbationsordnung erstmals immerhin einige Stunden Studentenunterricht zum Thema "Medizin des Alterns" ein erster Schritt gemacht. Gleichzeitig aber wird mit der neuen Musterweiterbildungsordnung für Ärzte (genau genommen mit ihrer Umsetzung auf Länderebene) in absurder Weise der demographisch-medizinischen Wirklichkeit entgegen gewirkt. War die klinische Geriatrie mit Änderung der letzten Approbationsordnung als eine Art "Schwerpunktfach" in die medizinische Facharztweiterbildung aufgenommen worden, so ist mit der Abschaffung des Schwerpunktes Klinische Geriatrie und damit einer strukturierten Weiterbildung ein kontraproduktiver Schritt gemacht worden.
Immerhin: Zwei Bundesländer, nämlich Brandenburg und Sachsen-Anhalt, haben sich der Umsetzung dieser neuen Weiterbildungsordnung widersetzt und halten am Schwerpunkt fest, nicht zuletzt auch um bestehende Landesgeriatriekonzepte nicht zu konterkarieren.
Die Sozialministerien der anderen Bundesländer jedoch sind unentschlossen oder verhalten sich dem Problem gegenüber gleichgültig. Dabei ist unbestreitbar: Eine funktionierende medizinische Versorgung erfordert eine qualifizierte Fachweiterbildung der Ärzte. Auch spezialisierte Krankenhausabteilungen sind gebunden an entsprechende Facharztweiterbildungen. Somit wäre es nur eine Frage der Zeit, wenn nach Abschaffung des Faches "Klinische Geriatrie" das in Zukunft noch dringender benötigte Fachwissen auch an den Krankenhäusern verloren ginge.
Auch diese Entwicklung könnte Prof. Kolb zufolge den "Rassismus gegen Alte" verstärken.
Die Geriatrie hingegen hat sich durch ihr Engagement für nicht nur ältere Patienten immer wieder auch dafür eingesetzt, die Chancen zu erkennen, die ein höherer Anteil von Älteren in einer Gesellschaft bedeuten kann. So sind die Lehrinhalte des von der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie vorgeschlagenen Curriculums im Studentenunterricht Altersmedizin deutlich dadurch geprägt, die Ressourcen und nicht nur die Defizite älterer Patienten zu kennen, zu erfassen und zu nutzen. Wenn man die Alten einer Gesellschaft jedoch ausschließlich als Kostenfaktor betrachtet und durch Ausgrenzungen der oben beschriebenen Art die Kosten vermeintlich zu reduzieren sucht, so wird man am Ende eine noch viel höhere Zeche zu zahlen haben: weil dann Krankheiten verschlimmert, Begleiterkrankungen verstärkt und vor allem die Pflegeabhängigkeit drastisch steigen werden. "Insofern lohnt es sich, die Herausforderung anzunehmen und die aktuellen und zukünftigen demographischen Gegebenheiten auch als Chance zu verstehen", erklärte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie jetzt in Berlin.
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Ansprechpartner:
Prof. Dr.med. Dr.rer.physiol. Gerald Kolb
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) e.V.
St. Bonifatius-Hospital, Abt. Geriatrie
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http://www.mwm-vermittlung.de/aktudgg2004.html
http://www.mwm-vermittlung.de/aa05pdverschieb.html
http://www.dggeriatrie.de/dgg/index.htm
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Psychologie, Wirtschaft
überregional
Forschungsprojekte, Wissenschaftspolitik
Deutsch
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