Wirtschaftspolitik
Von freiem Handel versprechen sich viele Regierungen mehr Wohlstand für alle. Dennoch
zögern die meisten Länder, den Schutz ihrer eigenen Wirtschaft zu mindern und Handels-
barrieren abzubauen. Der Tübinger Volkswirtschaftswissenschaftler Prof. Heinz Gert Preu-
ße hat unterschiedliche Prozesse der Regionalisierung, ein Konzept einer regional be-
grenzten freien Handelspolitik, in den Staaten Nord- und Südamerikas näher untersucht.
"Eine weitere Portion Nudeln in der Spaghettischüssel"
In der Handelspolitik wird viel taktiert: Staaten wollen ihre eigenen Produkte oder Dienst-
leistungen exportieren. Sie zögern aber, die eigenen Märkte für andere Staaten im selben
Maß zu öffnen. Dennoch gab es immer wieder auch Bemühungen, Zollunionen zu schlie-
ßen und Handelsbarrieren abzubauen. In der Sprache der Volkswirtschaftswissenschaftler
heißt Regionalisierung die Entwicklung hin zu offenem Handel für eine begrenzte Zahl von
meist regional eng beieinander liegenden Staaten. Prof. Heinz Gert Preuße vom Wirt-
schaftswissenschaftlichen Seminar der Universität Tübingen hat die wirtschaftspolitischen
Entwicklungen in Nord- und Südamerika untersucht, die einen deutlichen Trend zur Regio-
nalisierung zeigen. Der Forscher hat aber auch festgestellt, dass der freie Handel in dieser
Region noch lange nicht Wirklichkeit geworden ist.
"In Europa gab es mit der Europäischen Gemeinschaft und der EFTA erste Bemühungen
seit den 1950er-Jahren zu mehr Regionalisierung", erklärt Heinz Gert Preuße. In der EFTA
(European Free Trade Association) und der EG gilt seit 1967 prinzipiell Zollfreiheit. In den
USA, so Preuße, sei die Wende zum Regionalismus erst in den 1980er- und 1990er-Jahren
vollzogen worden, mit der Gründung der NAFTA (North American Free Trade Agreement).
Dieser Nordamerikanischen Freihandelszone, die im Jahr 1994 in Kraft trat, gehören die
USA, Kanada und Mexiko an. "Zuvor ist man in den USA in der Handelspolitik zweigleisig
gefahren: Zum einen hat man mit dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT
(General Agreement on Tariffs and Trade) einen multilateralen Weg verfolgt, zum anderen
hat man versucht, unilateral den Zugang zu anderen Märkten zu forcieren", sagt Preuße.
Anfang der 80er Jahre sei als dritter Weg die regionale Option hinzugekommen. Im GATT
seien Zollunionen zwischen einzelnen Ländern eigentlich nur als Ausnahmetatbestand zu-
gelassen, erklärt Preuße: "Hintergrund ist, dass das GATT, als eine dem Multilateralismus
verpflichtete Institution das Prinzip verfolgt, kein Land im Handel zu diskriminieren." Regio-
nalisierung bedeute aber, Nichtmitglieder auszuschließen. Ein besonderes Problem der
Ausweitung des Regionalismus besteht darin, dass die Abkommen in unterschiedlicher
Weise ausgestaltet werden und sich in ihren handelspolitischen Regelungen überlappen.
Ein solches Durcheinander verschiedener handelspolitischer Ansätze ist auch in Amerika
zu beobachten. Es hat den US-Ökonomen Jagdish N. Bhagwati dazu bewogen, vom
"spaghetti bowl regionalism" - Spaghettischüssel-Regionalismus - zu sprechen, eben ei-
nem schwer entwirrbaren Durcheinander vieler (Anreiz)Stränge.
Versuche zur Schaffung gemeinsamer Märkte gab es in Amerika viele. In Lateinamerika
folgte parallel zum Andenpakt und dem mittelamerikanischen Markt der Mercosur (Mercado
Común del Cono Sur - Gemeinsamer Südamerikanischer Markt), in dem sich mit Inkrafttre-
ten 1991, einer Zollunion seit 1995, Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay zusam-
mengeschlossen haben, assoziiert sind Chile und Bolivien. "Der Mercosur sollte Brasilien
und Argentinien auch politisch enger aneinander binden", erklärt Preuße. "Im Norden ver-
suchten die USA, mit der NAFTA zur Stabilisierung der politischen und ökonomischen Situ-
ation in Mexiko beizutragen. Auch Mexiko wollte die eigenen Reformen absichern. Denn ein
überstaatliches Gebilde kann einem Staat manchmal helfen, sich gegen starke Interessen-
gruppen im eigenen Land durchzusetzen und so ein entwicklungsfreundlicheres Klima auf-
zubauen." Mexiko wollte nach Einschätzung des Wirtschaftswissenschaftlers Ende der
1980er-Jahre ursprünglich die Handelsbeziehungen zu Europa stärken, um seine Abhän-
gigkeit von den USA abzubauen. Dort war man jedoch durch den Fall der Berliner Mauer
mit sich selbst beschäftigt. So versuchte Mexiko über die NAFTA, sich einen Markt in den
USA zu sichern.
Bei NAFTA und Mercosur lief die zeitliche Entwicklung unterschiedlich. "In der NAFTA hat
sich ein auch Nichtmitgliedern gegenüber offener Regionalismus entwickelt. Der nordame-
rikanische Handel ist zu etwa 95 Prozent von Zöllen befreit", sagt Preuße. Ökonomisch sei
die NAFTA ein Erfolg, politisch aber unpopulär. Wirtschaftliche Misserfolge würden allge-
mein in den USA und Mexiko der NAFTA angelastet. "Die Grundstimmung in den USA zeigt
dadurch erkennbare Tendenzen gegen den internationalen Freihandel", meint der For-
scher. Der Mercosur sei in den ersten Jahren sehr erfolgreich gewesen. "In Lateinamerika
wurden die Handelsschranken in bewundernswerter Weise niedergerissen", berichtet
Preuße. Doch durch externe Schwierigkeiten wie die schweren Krisen in Asien und Russ-
land sowie auf Grund erneuter eigener Fehlentwicklungen sei das ganze Projekt ins Sto-
cken geraten. "In entscheidenden Fragen wie zum Beispiel beim Automarkt ist man zu alten
Regelungen zurückgekehrt und erhebt noch immer hohe Zölle. Mit der Brasilienkrise 1999
und dem Crash in Argentinien 2001 drohte auch der Mercosur zu scheitern", so der Wis-
senschaftler. Nach diesen Erfahrungen sei offen, ob das Konzept der offenen Regionalisie-
rung in Lateinamerika überhaupt noch lebensfähig sei. Dennoch sei die Regionalisierung
zumindest theoretisch schon weiter gedacht worden: Auf dem ganzen amerikanischen Kon-
tinent - ausgeschlossen ist nur Kuba - soll eine gemeinsame Freihandelszone entstehen,
FTAA - Free Trade Area of the Americas. "Das Abkommen ist in Europa nicht sehr bekannt
und auch noch nicht ausdiskutiert, soll aber bereits zum Januar 2006 in Kraft treten", sagt
Preuße.
Offen bleibt, ob die Freihandelszonen und die weiterführenden Integrationsabkommen ihren
Namen verdienen und tatsächlich zum Multilateralismus führen werden. Als eine große Ge-
fahr sieht Preuße den "spaghetti bowl regionalism". So sind in Amerika bereits groteske Si-
tuationen zu beobachten: NAFTA ist eine Freihandelszone zwischen den USA, Kanada und
Mexiko. Kanada unterhält eine weitere Freihandelszone mit Chile. Mexiko und die USA je-
weils auch, aber Chile durfte bislang nicht in der NAFTA sein. Die Crux sei, dass zwar der
Freihandel propagiert werde, aber überall Ausnahmen von diesem Prinzip definiert werden.
Dabei steigen die Transaktionskosten im Handel. Zum Beispiel werden in der Freihandels-
zone Ursprungsregeln aufgestellt, nach denen ein Produkt zu einem bestimmten Prozent-
satz in den Mitgliedsländern produziert sein muss, um zollfrei zu bleiben. "Nun hat ein Kon-
tinent vielleicht 20 oder 30 Freihandelsabkommen; der Nachweis der Einhaltung der Ur-
sprungsregeln wird dann oft so teuer, dass mancher Ex- und Importeur lieber gleich die Zöl-
le zahlt, statt den Nachweis zu erbringen." So könnte sich der Regionalismus selbst ad ab-
surdum führen. "Mit der amerikanischen Freihandelszone FTAA könnte man dem begeg-
nen, wenn es gelänge, auf diese Weise das 'spaghetti bowl'-Syndrom zu überwinden",
meint der Forscher. Wenn es schlecht läuft, kommt allerdings nur eine neue Portion Nudeln
in die Spaghettischüssel - und das steht nach Ansicht von Preuße durchaus zu befürchten.
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Nähere Informationen:
Prof. Heinz Gert Preuße
Wirtschaftswissenschaftliches Seminar
Volkswirtschaftslehre - Wirtschaftspolitik
Melanchthonstraße 30
72074 Tübingen
Tel. 0 70 71/2 97 41 50
Fax 0 70 71/29 55 34
Prof. Heinz Gert Preuße hat sein Forschungsprojekt zum amerikanischen Regionalismus
auch als Buch veröffentlicht:
Heinz G. Preuße: "The New American Regionalism", Edward Elgar Publishing, ISBN 1-
84376-612-4.
Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Politik, Recht, Wirtschaft
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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