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12.01.2005 14:50

Soziologen brauchen keine Helden

Susanne Bossemeyer Stabsstelle 2 – Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
FernUniversität in Hagen

    Fiktionale Texte als Untersuchungsgegenstand der Soziologie: Ein ungewöhnliches Buch ist aus einem ungewöhnlichen Projekt entstanden. Die Idee zum soziologischen Blick auf die Kunst hatten Univ.-Prof. Dr. Uwe Schimank und Dr. Thomas Kron, beide Institut für Soziologie der FernUniversität in Hagen. Die beiden Wissenschaftler fragten sich: Was sagt Literatur über die Gegenwart aus? Welche Konflikte werden behandelt? Finden wir in Romanen zuweilen tiefere Einsichten über die Gesellschaft als in langen soziologischen Abhandlungen? Vielleicht können Soziologen nicht anders, als über solche Fragen selbst beim Lesen nachzudenken.

    Jedenfalls bekundeten zunächst dreißig weitere Wissenschaftler ihr Interesse, einen literarischen Text einer (nicht ganz ernst gemeinten) soziologischen Analyse zu unterziehen. Der Gedanke, den Lieblingsroman unter das sozialwissenschaftliche Messer zu legen, lag offenbar nicht sehr fern. Das Projektdesign für das Buchprojekt, das von der Thyssen-Stiftung unterstützt wurde, war "erst einmal ein Schuss ins Blaue", erklärt Schimank: Mal sehen, was dabei herauskommt, hatte die Devise gelautet. Schimank und Kron fragten nach soziologischen Analysen von Romanen, die nach 1945 geschrieben wurden. Lyrik und Dramatik schlossen sie aus. Eine Beschränkung auf Themen oder beispielsweise Länder gab es dagegen nicht. Bewusst unterschieden sie auch nicht zwischen so genannter ernsthafter und Unterhaltungsliteratur. Kron: "Wir wollten die Ausschreibung möglichst offen lassen und einfach mal schauen, was kommt." Acht Wissenschaftler reichten schließlich tatsächlich Manuskripte ein, die auf einer Tagung ausführlich diskutiert wurden.

    Entstanden ist daraus der Aufsatzband "Die Gesellschaft der Literatur" (Budrich 2004). Mit geschärft sozialwissenschaftlichem, durch die Literaturwissenschaft bewusst nicht "abgelenktem" Blick nehmen sich darin Soziologen aus ganz Deutschland jeweils einen Roman zur Analyse vor: Von Mankell über Houllebecq bis hin zu Kundera spüren sie angesprochenen Konflikten nach. Sie beschäftigen sich mit dem Verlust sozialer Wertschätzung in den Romanen von Tom Sharpe oder mit der sozialen Ordnung in Donna Leons Krimis. Die Autoren der Aufsätze wollen weder literaturwissenschaftlich dilettieren, noch nehmen sie den soziologischen Blick auf die Kunst allzu ernst. Mit einem Zwinkern im Auge analysieren sie den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft - die klassische Frage der Soziologie eben.

    Sie untersuchen die von ihnen ausgewählten Texte mit sozialwissenschaftlichen Methoden, von der Objektiven Hermeneutik bis zur Qualitativen Inhaltsanalyse. Sie behandeln die Literatur als zu analysierenden Datensatz, blenden damit die Tatsache aus, dass es sich um Fiktion handelt. Dieses Vorgehen erwies sich als äußerst fruchtbar. Erste Erkenntnis: Romanautoren brauchen Helden, um Einsichten über die Gesellschaft zu übermitteln, soziale Konflikte plastisch zu machen. Soziologen dagegen suchen nach Strukturen und Prozessen, um Brüche zu beschreiben. Trotzdem "schneiden die Wissenschaftler nicht schlechter ab in der Beobachtung der Gesellschaft", hat Kron zu seiner Erleichterung erkannt. Positiv gewendet: "Soziologen sind nicht gezwungen, ihre Aussagen über die Gesellschaft über Individuen zu transportieren", formuliert Schimank.

    Es kamen auch Parallelen zwischen Literatur und Soziologie zum Vorschein. Beide versuchen, die Gesellschaft zu beschreiben. Sie betrachten und deuten Konflikte zwischen Individuum und Gemeinschaft. Es gelingt ihnen mal besser, mal schlechter, diese Konflikte offen zu legen. Daneben versucht zumindest die soziologische Gegenwartsdiagnose, gesellschaftliche Strömungen, Trends und Phänomene griffig auf den Punkt zu bringen. Wie im Roman, doch ohne den Helden.
    Nicht ausgeschlossen, dass die Ergebnisse der Autoren zum Stichwort werden für neue soziologische Forschungsfragen. Und: "Selbst beim Lesen von Kriminalromanen kann man weiter Soziologie betreiben", bilanziert Schimank. Er kann es wohl doch nicht lassen.

    Kron, Thomas / Schimank, Uwe (Hrsg.): Die Gesellschaft der Literatur. Budrich 2004.

    Mit Beiträgen von
    Johannes Angermüller
    Andrea Maria Dederichs
    Frank Hillebrandt
    Martin Hóracek
    Nicole Köck
    Thomas Kron
    Thomas Link
    Thomas Malsch
    Uwe Schimank
    Anton Sterbling
    Margit Weihrich / G. Günter Voß
    Andreas Weber
    Sven Wöhler

    Mit Beiträgen zu Romanen von
    Kobo Abe
    Nikolai Herbst
    Michel Houllebecq
    Bodo Kirchhoff
    Donna Leon
    Henning Mankell
    Herta Müller
    Milan Kundera
    Sara Paretsky
    Thomas Pynchon
    Arno Schmidt
    Tom Sharpe
    Maj Sjöwall / Per Wahlöö
    Botho Strauß

    Weitere Informationen: FernUniversität in Hagen, Institut für Soziologie, Univ.-Prof. Dr. Uwe Schimank, Tel. 02331/987-2523

    Autorin: Anemone Schlich, FernUniversität in Hagen, Pressereferentin, Tel. 02331/987-2421, eMail anemone.schlich@fernuni-hagen.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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