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02.02.2005 09:42

Auf der Suche nach Selbstständigkeit und etwas Glück: Lebensgeschichten von Mädchen mit Heimerziehungserfahrungen

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Sozialpädagogik

    Mädchen, die in die Heimerziehung kommen, hatten es in ihren eigenen Familien häufig sehr schwer. Doch auch im Heim gelingt es nicht in jedem Fall, den jungen Frauen durch das richtige Maß an Selbstständigkeit und Geborgenheit einen besseren Start ins Leben zu ermöglichen. Die Tübinger Sozialpädagogin Dr. Margarete Finkel hat untersucht, unter welchen Bedingungen Heimerziehung für Mädchen erfolgreich verlaufen kann.

    Heimerziehung ist die älteste und bekannteste Form der Erziehungshilfe, auch wenn sie mit den einstigen Waisenhäusern und Erziehungsanstalten staatlicher und konfessioneller Prägung à la Oliver Twist heute nicht mehr viel gemeinsam hat. Seit den 1960er Jahren haben neue Entwicklungen für eine vielfältige Landschaft stationärer Jugendhilfeformen gesorgt, in der Kinder und Jugendliche durch pädagogische und therapeutische Angebote in ihrer Entwicklung gefördert werden. Dennoch, es gibt nicht nur Erfolge zu verzeichnen, betont die Tübinger Sozialpädagogin Dr. Margarete Finkel. Für ihre Dissertation "Selbstständigkeit und etwas Glück. Einflüsse öffentlicher Erziehung auf die biographischen Perspektiven junger Frauen" am Institut für Erziehungswissenschaft untersuchte sie Lebensgeschichten von jungen Frauen, die einen Teil ihrer Jugendzeit in einer oder in mehreren stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe zugebracht hatten.

    "Ich habe mich immer gefragt, weshalb es manchen dieser Mädchen gelingt, in den Institutionen der Erziehungshilfe 'anzukommen' und einen eigenständigen Lebensentwurf zu entwickeln, während andere keinen Anschluss finden und scheitern," erzählt Finkel. Für sie stand deshalb im Zentrum der Arbeit die Frage, wie aus der Perspektive der Mädchen Angebote erzieherischer Hilfen gestaltet sein müssen, um ihnen individuelle Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen und sie in ihrem Anspruch auf ein eigenes Leben zu unterstützen. Denn aufzuarbeiten gibt es da so einiges: Arbeitslosigkeit, Sucht und Trennung in der Familie, Identitätsprobleme sowie Bildungsbenachteiligungen. "Mädchen in der Heimerziehung droht die Gefahr des Scheiterns sowie der gesellschaftlichen Marginalisierung besonders", erklärt sie, "häufig waren sie in ihrer Vergangenheit vielfältigen Bedrohungen ihrer persönlichen und körperlichen Integrität ausgesetzt, sei es durch Gewalt oder durch sexuellen Missbrauch. Oder sie mussten Aufgaben übernehmen, die nicht ihrem Alter entsprachen, etwa für den Haushalt sorgen oder sich um die Geschwister kümmern."

    Anna ist eines der drei Mädchen, deren Biografie vor, während und nach der Heimzeit für die Untersuchung analysiert wurde. Jahrelang leidet die junge Italienerin unter den gewalttätigen Ausbrüchen ihres Stiefvaters, der sowohl sie als auch ihre Mutter schlägt. Anna muss immer mehr Aufgaben im Haushalt und in der Betreuung ihrer Geschwister bewältigen, denen die Mutter wegen der fortschreitenden Alkoholsucht nicht mehr gewachsen ist. Mit 16 Jahren gelingt es ihr, in einer Jugendhilfeeinrichtung und später in einer betreuten Wohngruppe unterzukommen - für sie ein biografischer Wendepunkt. Das Zusammenleben mit seinen geregelten Alltagsstrukturen erlebt Anna als wohltuende Gegenerfahrung zu jenem, was sie in ihrer Familie kennen lernen musste. Sie findet in der Gruppe Anschluss und empfindet einzelne Betreuer als wichtige Vertrauenspersonen. Für sie wird der Lebensabschnitt in der Heimerziehung nach der schwierigen Kindheit zu einem Ausgangspunkt, von dem aus eigenes Leben erst möglich wird. Im Rückblick wird sie die Wohngruppe als "das Herz meines Lebens" bezeichnen.

    Natascha hingegen sucht nach jahrelangen sexuellen Übergriffen des Vaters einen besseren Ort zum Leben. Für sie entspricht ihr Aufenthalt in der Übergangshilfe einer Jugendschutzstelle und in einem Kinderhaus jedoch nicht den Erwartungen, die sie an die Institutionen gerichtet hatte. Sie findet weder Zugang zu anderen Mädchen und Jungen noch zu den Betreuern und leidet unter der Stigmatisierung als Heimkind. So wird sie in der Schule mit dem Satz konfrontiert: "Du bist ein Heimkind, Du bist ein Problemkind und einmal irgendwas, und Du bist draußen." Die Erziehungspraxis der Einrichtungen erinnert Natascha zu sehr an das, was sie an Bevormundung in ihrer Familie miterleben musste.

    Margarete Finkels Befunde wirken auf den ersten Blick unspektakulär, beinahe selbstverständlich. Heimerziehung könne dann erfolgreich sein, wenn es Strukturen gibt, die eigenes Handeln ermöglichen als auch entsprechende Unterstützungsleistungen, die persönliche Lern- und Entwicklungsprozesse anregen. Institutionen müssten sowohl Sicherheit und Entlastung bieten als auch individuelle Entfaltung ermöglichen. "Die Mädchen sind in den Einrichtungen auf der Suche nach einem ausgewogenen Maß an Halt und Offenheit, das sowohl ihrem Bedürfnis nach Geborgenheit als auch ihrem Selbstständigkeitsstreben Rechnung trägt", so die Pädagogin. Wenn man sie mit zu vielen Verboten und Regeln konfrontiere, führe dies zu einem Rückzug beziehungsweise zur Gegenwehr. Ein zu hohes Maß an Selbstüberlassung andrerseits entspreche aber nicht dem Bedürfnis der Mädchen nach Verbundenheit und Aufgehoben-Sein, sondern fördere in vielen Fällen Orientierungslosigkeit und Verzweiflung. Eine ausgewogene Balance könne erreicht werden, wenn die biografische Perspektive stärker als bislang in die Arbeit der Pädagogen eingehe.

    Entscheidend seien zudem die erwachsenen Bezugspersonen, nicht nur innerhalb der Einrichtungen. Diese sollen für die Mädchen glaubhafte Vorbilder sein und sie bei der Entwicklung ihres weiblichen Selbstbildes und in der Auseinandersetzung mit Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern unterstützen. Im Kontakt mit ihren Betreuern könnten die Mädchen bislang vermisste Eltern-Kind-Verbindungen nacherleben. "Mädchen distanzieren sich von ihren Betreuern, wenn sie sich nicht ernst genommen und in ihrem Entfaltungsraum eingeschränkt fühlen." Eine gute Beziehung zu Erwachsenen werde vor allem dann möglich, wenn sich die Mädchen als selbstständige Persönlichkeiten anerkannt und in vertrauensvollen Beziehungen verbunden fühlen. Den sozialen Erfahrungen mit Gleichaltrigen müsse ebenfalls ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. "Der Umgang mit Mädchen, aber auch mit Jungen, ist ein gutes 'Übungsfeld' im sozialen Miteinander. Er ist wie ein Spiegel für ihre sozialen und kommunikativen Kompetenzen. Die Mädchen können sich ausprobieren und dabei sehen, wie sie auf andere wirken", sagt Finkel. "Auf diese Weise entwickeln sie auch eigene Vorstellungen vom Mädchen- beziehungsweise Frau-Sein, die über das hinausgehen, was sie in ihren Familien kennen gelernt haben." (6210 Zeichen)

    Nähere Informationen:
    Dr. Margarete Finkel, E-Mail: margarete.finkel@gmx.de, Tel. 0 70 71/2 18 54
    Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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