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07.04.1999 11:03

Gemmen als portable Zeugen der Antike

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Gemmen als portable Zeugen der Antike

    Im Rahmen der Ausstellung "Kleine Gypse", die noch bis zum 2. Mai 1999 im Haspelturm des Schlosses Hohentübingen zu sehen ist, werden auch historische Gemmen und große Daktyliotheken präsentiert - darunter eine noch nie gezeigte Gemmensammlung aus dem Besitz der Familie Eduard Mörikes. Die historischen aus Gips, Schwefel oder Porzellanmasse hergestellten ca. 5 bis 50 Millimeter großen, ovalen Gemmen verbildlichen plastisch antike Motive und mythologische oder geschichtliche Szenen. Mörike, dem die Sammlung aus dem Besitz seines Onkels angeboten wurde, wollte nach langer Überlegung die 600 Stück umfassende Sammlung nicht kaufen, da von ihr schon zu viele Abgüsse- und -drucke genommen worden waren.

    Neben dieser noch original von Mörike mit Watte verpackten Sammlung kann man eine von den größten Daktyliotheken sehen, die Philipp Daniel Lippert (1702-1785) aus verschiedenen Abgüssen von Originalgemmen zusammenstellte. Bis zu dreitausend verschiedene Gemmen wurden dabei in schubladenreichen dekorativen Schränken zusammengestellt und gut beschriftet aufbewahrt. Sowohl die original in der Antike aus weichem Stein geritzten Gemmen als auch die unzähligen Abdrücke waren in der Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert sehr beliebt. Einzelstücke, aber mehr noch die Daktyliotheken gehörten in jede höfische oder später auch bürgerliche Bibliothek. Sie spiegeln exemplarisch das gesteigerte Interesse der Menschen für die Antike und die durch die Kunstwerke verkörperten Ideale wider.
    Gemmen geben auf kleinsten Raum Einblick in Geschichte und Mythologie der Antike. Sie bilden das ab, was es im Original noch vielfach in Italien zu sehen gab: Antike Fresken, Skulpturen und Bilder. Es gehörte zu den Privilegien des Adels und des wohlhabenden Bürgertums im ausgehenden 17., 18. und 19. Jahrhundert zu reisen. Italien ermöglichte dem Gelehrten, den Künstlern und den jungen Aristokraten, die hier ihren "letzten Schliff" verpaßt bekamen, das Studium der von Johann Joachim Wickelmann (1717-1768) gepriesenen griechischen Ideale. Der Literat und Forscher, der über die größte Gemmensammlung von Baron Philipp von Stosch (1691-1757) schrieb, erhebt die griechische Glyptik und Kunst zum Ideal.
    Doch nicht alle konnten reisen, und wie schnell sind Ideale in der Heimat vergessen. So kaufte man sich als Mitbringsel original antike Gemmen oder deren Abgüsse. Diese aus Stein geschnittenen reliefartigen Bilder wurden schon in der Antike hergestellt und von Feldherren und Kaisern wie Cäsar und Augustus gesammelt. Aber auch die Gelehrten und Künstler späterer Jahrhunderte wie Johann Wolfgang von Goethe, Winckelmann, Ephraim Lessing und Eduard Mörike studierten die Antike und damit die Ideale dieser vergangenen Epoche anhand der kleinen und portablen Gemmen oder Abgüsse. Goethe brachte sich von seiner Italienreise 200 Gemmen mit. "Bey ihrer Betrachtung weht ein belebender Geist über die endlosen Trümmer", schrieb Goethe (in: Über Kunst und Altertum) angesichts der großen StoschŽschen Sammlung.
    Da die Gemmenoriginale schon damals sehr teuer waren, wurden umfangreiche Abdruckserien aus Gips, Siegellack, Schwefel oder Wachs gefertigt. Die bekanntesten Serien stammen von Philipp Daniel Lippert (1702-1785). Nach seinem Vorbild entstanden nicht mehr nur nach Themen zusammengestellte Sammlungen, sondern vorab konzipierte Abdruckreihen. Diese zusammengestellten Abdrücke von Originalen, die Lippert aus ganz Europa zusammengetragen hat, durften in keinem gutbürgerlichen Haus, in keiner Universität oder Künstleratelier fehlen. Lipperts größte Daktyliothek von 1756 enthält 3000 Abdrücke; eine weitere von 1767 hat 2000 Abdrücke. Aufgabe der geordneten Sammlung war es, das gesamte Repertoire der Glyptik zu illustrieren.
    Auch Eduard Mörike (1804-1875) sammelte - mehr aber aus Passion als aus wissenschaftlichem Interesse- Abdrücke antiker Gemmen. Nach dem Tod seines Onkels Heinrich Georg Philipp Mörike (1781-1842) bot ihm seine Tante eine Sammlung an, die der junge Mörike wegen "der Auswahl und Mannigfaltigkeit, so wie in Betracht der schönen Schwefelmasse und der ursprünglichen, theilweise noch jetzt erhaltenen Reinheit und Schärfe der Abdrücke ... " (Brief vom 31.10.1842) sehr schätzte. Nach einiger Zeit reichte er seiner Tante aber die Sammlung zurück: "Allein um so mehr ist zu beklagen, daß in mehrerer Beziehung, namentlich durch Gipsabgüsse, die, wie es scheint, davon genommen wurden, sehr gelitten hat.... " (gleicher Brief). Diese Gemmen blieben bis zum heutigen Tag im Familienbesitz.

    Die ausgestellte Gemmensammlung aus dem Besitz von Mörike, die Daktyliotheken von Lippert und anderen sind Zeichen des aufstrebenden Bürgertums, seiner Macht und Bildung. Mit der zunehmenden Verbreitung der Daktyliotheken im 19. Jahrhundert verlieren die Sammlungen aber ihren Wert zu Gunsten der alten, antiken Originalgemmen. Als dann die Photographie die griechische Glyptik und Kunstwerke abbilden kann, werden die kleine "Surrogate" nicht mehr gebraucht.

    Die Ausstellung ist eine Gemeinschaftsarbeit des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft und des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Tübingen.
    Noch bis zum 2. Mai 1999 im Haspelturm der Schlosses Hohentübingen.
    Öffnungszeiten: täglich von 10 bis 18 Uhr.


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Kunst / Design, Musik / Theater
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft
    Deutsch


     

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