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27.08.1999 10:57

Sozialwissenschaftler fordern neue Aussiedlerpolitik

Ingrid Hildebrand Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Universität Kassel

    Psychologen und Soziologen üben energische, aber differenzierte Kritik an der staatlichen Aussiedlerpolitik. Für die psychische und soziokulturelle Eingliederung seien Sprachkurse, die nun verstärkt gefördert werden sollen, zwar wichtig, nachhaltige Impulse könnten aber nur durch sozialpädagogische Fördermaßnahmen erreicht werden.

    Kassel. Psychologen und Soziologen üben energische, aber differenzierte Kritik an der staatlichen Aussiedlerpolitik. Für die psychische und soziokulturelle Eingliederung seien Sprachkurse, die nun verstärkt gefördert werden sollen, zwar wichtig, nachhaltige Impulse könnten aber nur durch sozialpädagogische Fördermaßnahmen erreicht werden. "Wir müssen uns vordringlich um die jungen Leute kümmern, damit sie nicht Außenseiter in unserer Gesellschaft werden und in Kriminalität und Drogenkonsum abgleiten", fordern Wissenschaftler aus Kassel, Jena, Wuppertal und Osnabrück. Die Integration von Aussiedlerfamilien dauere viele Jahre, jedenfalls mehr als eine Generation, so wie bei Immigranten aus anderen Kulturkreisen auch. Zum Beweis ihrer Forderungen stellten die Wissenschaftler, unter ihnen Prof. Dr. Ernst-D. Lantermann und Prof. Dr. Johannes Weiß von der Universität Gesamthochschule Kassel, eine umfangreiche Längsschnittstudie vor, die ein Team von sechs Forschungsgruppen seit 1991 unternahm. Die Untersuchung wurde im wesentlichen aus Mitteln des Bundesinnenministeriums finanziert. Jetzt liegt, herausgegeben von Rainer K. Silbereisen, Ernst D. Lantermann und Eva Schmitt-Rodermund, ein 389 Seiten starkes Buch vor ("Aussiedler in Deutschland. Akkulturation von Persönlichkeit und Verhalten", Verlag Leske + Budrich). Die Wissenschaftler befragten insgesamt viermal in halbjährigem Abstand über 300 Aussiedlerfamilien in Kassel, Gießen, Osnabrück und Wuppertal über ihre Lebenssituation in der damaligen Sowjetunion, Polen und Rumänien, über ihre Eingliederungsprobleme und -erfolge in Deutschland, über ihre Ziele, ihre psychosoziale Befindlichkeit sowie über ihre Wohn- und Arbeitsituation. Dabei stellten sie fest, dass vor allem ältere weibliche Immigranten beruflich eine fatale Abwärtsqualifikation durchmachen. "Je höher sie in ihrer Heimat qualifiziert waren, desto schlechter sind ihre Möglichkeiten, in Deutschland auf gleichem Niveau Arbeit zu finden", resümiert Siegfried Greif, Osnabrück. Am schwersten werden davon Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion betroffen, weil sie in ihren Wertorientierungen am stärksten von einem äußerst traditionalistischen Deutschlandbild geprägt sind, einer Vorstellung von Deutschland und "den Deutschen", die wenig gemein hat mit dem heutigen, modernen Industriestaat Deutschland. Diese Prägung ändert sich bei älteren Erwachsenen weniger als bei jungen Leuten, so dass eine erfolgreiche Eingliederung in die neuen Verhältnisse mühsam ist. Das führe insbesondere bei Immigranten aus den GUS-Staaten, die am häufigsten ethnisch-nationale Motive für die Aussiedlung angeben ("Endlich als Deutsche unter Deutschen leben"), zu Isolation, Rückzug und depressiver Verstimmung über die enttäuschten Erwartungen.
    Die rechtliche Gleichstellung als Staatsbürger garantiert noch keine soziale Integration: Sie besitzen zwar einen deutschen Pass, fühlen sich aber nicht als Deutsche akzeptiert. Hingegen hätten Kinder und Jugendliche langfristig eine realistische Chance auf umfassende soziale Integration. Dabei sind die Sprachkenntnisse zwar wichtig, aber der Schlüssel für die Akkulturation junger Leute liegt beim Kontakt zu gleichaltrigen Deutschen. Die jungen Spätaussiedler würden auch dann als Fremde identifiziert, wenn sie die deutsche Sprache hinreichend beherrschten. Entscheidend sei vielmehr eine Umorientierung von den mitgebrachten traditionalistischen hin zu den "modernen" Wertemustern, die für die Menschen in der Bundesrepublik typisch seien. Junge Leute müssten früh lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden und über ihre Stärken Bescheid zu wissen. Behindert wird dieser Prozess von der traditionell starken Familienbindung, die zwar die eigene Lebensart im Herkunftsland aufrecht erhalten ließ, aber in Deutschland eher zur Ausgrenzung seitens der ansässigen Gleichaltrigen führt. Eine Folge dieser bedenklichen Entwicklung sei es, dass man bei denen, die den Anschluss nicht schaffen werden, mit einer Tendenz zur Gettoisierung rechnen müsse. Sie empfinden Deutschland oftmals nicht als wiedergefundene ,Heimat', wie noch ihre Eltern, sondern als eine Welt, in der sich ihre Ansprüche und Hoffnungen nicht verwirklichen lassen. Hier ticke eine soziale Zeitbombe, die nur durch sozialpädagogische Projektarbeit auch Jahre nach dem Zuzug entschärft werden könne. Dies alles verlangt einen langen
    Atem. Auch nach den geänderten Zuzugsrichtlinien kommen noch immer monatlich bis zu 10.000 Spätaussiedler aus nunmehr 26 ost- und zentraleuropäischen Staaten nach Deutschland. Die Eingliederungsprobleme von Aussiedlern werden uns noch länger beschäftigen, sehen die Wissenschaftler voraus. Dabei warnen sie zugleich vor fremdenfeindlichen Reaktionen: "Diese Menschen sind kulturell, ökonomisch und sozial eine Bereicherung für unsere Gesellschaft." p/jb.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Politik, Psychologie, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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