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09.02.1999 00:00

"Weiße Indianer" und "Rote Europäer"

Dr. Werner Boder Stabsreferat Kommunikation
VolkswagenStiftung

    Kulturelle Überläufer in Nordamerika (16. bis 19. Jahrhundert)

    Hannover (vws) In dem Film "Little Big Man" wird der von Dustin Hoffman verkörperte Titelheld zu einem Wanderer zwischen den Kulturen. Widrige Umstände lassen ihn einmal unter den indianischen Ureinwohnern, dann unter den weißen Eroberern leben. Der Film schöpft aus den Gegensätzen der beiden Kulturkreise Spannung und Komik. Sehr viel ernster war der Übergang von der einen zur anderen Kultur für diejenigen, die während der "Gründerjahre" der USA kraft eigener Entscheidung zu "kulturellen Überläufern" wurden.

    Im Verlauf der Entdeckung und Eroberung Nordamerikas durch die Europäer sind zahlreiche Menschen der Faszination des Fremden in einem solchen Maße erlegen, daß sie der eigenen Gesellschaft den Rücken gekehrt haben. Vielen ihrer Zeitgenossen galten sie als Abtrünnige und Verräter. Einem anderen intellektuellen europäischen Diskurs zufolge konnte man sie aber auch als einen Beleg für die Überlegenheit der vermeintlich natürlichen und ungebundenen Lebensweise der "Wilden" sehen. Dabei wurde und wird vielfach bis heute übersehen, daß es nicht nur weiße "Zivilisationsflüchtlinge" gab, sondern auch amerikanische Ureinwohner, die die kulturelle Grenze überschritten und bereitwillig die europäische Lebensweise übernahmen. In einem Forschungsvorhaben des Lehrstuhls für vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, unter der Leitung von Professor Dr. Werner Schiffauer werden nun "weiße Indianer" und "rote Europäer" als die kulturellen Überläufer im Nordamerika des 16. bis 19. Jahrhunderts untersucht. Die Volkswagen-Stiftung in Hannover fördert die Studie mit 263.300 Mark in ihrem Schwerpunkt "Das Fremde und das Eigene - Probleme und Möglichkeiten interkulturellen Verstehens".
    Der Bearbeiter des Projekts, Dr. habil. Marin Trenk, will die lebensgeschichtlichen Erfahrungen, aber auch die Funktionen und die historischen Rollen untersuchen, die die Kulturüberläufer beider Seiten, die "indianisierten" Weißen und die "europäisierten" Indianer, bei der Begegnung zweier Welten gespielt haben. Indem er das Auftreten dieser Grenzüberschreiter auf der Grundlage von autobiographischen Aufzeichnungen, Chroniken und Berichten von Missionaren, Reisenden, Siedlern, Pelzhändlern und anderen in historischer Perspektive rekonstruiert und interpretiert, will er der einseitigen und romantischen Vorstellung von den zivilisationsflüchtigen europäischen Kulturüberläufern begegnen. Im Mittelpunkt sollen dabei zunächst die Faktoren stehen, die in den europäischen und indianischen Kulturen einen Einfluß darauf hatten, ob Fremde eher assimiliert oder ausgegrenzt wurden.

    Untersucht werden soll auch das Spannungsverhältnis zwischen Selbst-Verständnis und Wahrnehmung, dem kulturelle Überläufer ausgesetzt waren, die häufig als Verräter angesehen wurden. Dabei sollen aus der Selbstwahrnehmung die Motive für den Kulturwechsel abgeleitet werden, etwa die Hoffnung, in der neuen Kultur bestimmten beruflichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Zwängen zu entgehen.

    Weiter soll an einigen Topoi, die für interkulturelle Stereotypisierungen besonders anfällig sind - wie etwa die Geschlechterbeziehung oder religiöse Praktiken und Vorstellungen -, die Möglichkeiten und Grenzen interkultureller Lernprozesse herausgearbeitet werden. Untersucht werden sollen auch die vielfältigen und bedeutsamen Rollen, die die "Kulturüberläufer" als Vermittler und sogenannte intercultural brokers spielen konnten, entweder als Agenten des Wandels oder aber auch als aktive Widersacher jeglicher Annäherung zwischen den Kulturen.

    Abschließend sollen die Ergebnisse mit den Resultaten der Erforschung des Südseeraums verglichen werden, wo das Phänomen der Kulturüberläufer in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ungleich vehementer verlief - und bis heute erheblich besser und ausführlicher untersucht wurde.

    Kulturelle Überläufer sind Grenzgänger zwischen den Kulturen, kulturelles Überläufertum stellt eine Form gelebter Interkulturalität dar. Am Beispiel der Kulturüberläufer, deren lebensgeschichtliche Erfahrung der Multikulturalität sie als moderne Gestalten erscheinen läßt, behandelt die Untersuchung die Möglichkeiten und Grenzen interkultureller Verständigung, die Prozesse kultureller und ethnischer Grenzsetzung sowie die ethnologische Problematik des Raumes zwischen den Kulturen. Damit will sie auch aus ethnohistorischer Perspektive einen Beitrag zu einer Theorie des interkulturellen Handelns und der Interkulturalität in unserer Zeit leisten.

    Kontakt: Prof. Dr. Werner Schiffauer, Telefon: 0335)5534-646;
    Dr. habil. Marin Trenk, Telefon: (0511)558706


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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