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20.10.1999 23:45

Schmerztherapie in Deutschland: Die Umsetzung der Forschung klemmt

Dipl. Biol. Barbara Ritzert Pressearbeit
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

    (München) Die Schmerzforscher produzieren neue Einsichten und Erkenntnisse, die selbst stärkste Schmerzen lindern und die Chronifizierung der Pein verhindern können. Doch diese Fortschritte nutzen den Millionen betroffener Menschen nur dann, wenn sie von einem Großteil der Ärzte auch wahrgenommen und umgesetzt werden. Vor allem müssen die politischen Rahmenbedingungen diese Umsetzung der Forschung in praktische Therapie auch ermöglichen. Dies ist jedoch in Deutschland nicht der Fall.

    Jeder Arzt ist in seiner täglichen Praxis mit akuten oder chronischen Schmerzen konfrontiert. Doch die Mehrzahl der heute praktizierenden Ärzte hat in ihrem Studium kaum etwas darüber erfahren, wie Schmerzen gelindert werden können. Sie hat nie einen Patienten mit chronischen Schmerzen gesehen, geschweige denn gelernt, wie man mit starken Schmerzmitteln umgeht und welche Strategien zu einer komplexen modernen Schmerzbehandlung gehören.

    "An diesen Verhältnissen hat sich wenig geändert", klagt Professor Klaus Lehmann, Präsident der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS). Zwar bieten engagierte Professoren an vielen Universitäten "Schmerz-vorlesungen" an, doch diese sind nicht "scheinpflichtig". Der Student kann, er muss sie nicht besuchen. Die Folgen sieht Lehmann an seiner Kölner Universität: Von den 300 bis 400 Studenten eines Semesters kommen nur 15 bis 20 zu seinen Vorlesungen. An anderen Universitäten sieht es nicht besser aus. "So lange eine so essentiell wichtige Tätigkeit wie der Umgang mit Schmerzpatienten nicht in einer selbstverständlichen Pflichtveranstaltung im Medizinstudium gelehrt wird, wird sich die Versorgung der betroffenen Patienten nicht bessern", stellt Leh-mann fest. Darüber hinaus gäbe es Gerüchte, dass die Beschäftigung mit Schmerzen im Medizinstudium demnächst ganz abgeschafft werden soll. Angeblich soll die neueste Prüfungsordnung keine Fragen zum Thema Schmerz mehr enthalten.

    Auch in der Weiterbildung zum Facharzt, gleich welcher Richtung - die Anästhesie ausgenommen -, spielt der Schmerz keine Rolle. Und voller Neid blicken die deutschen Schmerzexperten nach England oder Australien: Dort enthalten die Weiterbildungsordnungen klare Vorgaben, was Ärzte über Diagnostik und Therapie akuter und chronischer Schmerzen wissen und lernen müssen, wird Schmerz demnächst zu einem eigenen Weiterbildungsgang.

    Empfehlungen werden nicht umgesetzt.

    Zwar forderte der Deutsche Ärztetag 1996, dass schmerztherapeutische Themen in die Weiterbildungsordnung aller klinischen Fächer aufgenommen werden sollen. Doch stößt, so Lehmann, "dieses Vorhaben zumindest im jetzigen deutschen Weiterbildungssystem auf fast unüberwindbare personelle wie zeitliche Probleme. Die Umsetzung wird also weiter verschoben." Darüber hinaus lehnen einzelne Landesärztekammern noch immer die Einführung der Zusatzbezeichnung "Spezielle Schmerztherapie" ab, die ebenfalls vom Deutschen Ärztetag 1996 beschlossen wurde. Diese Zusatzbezeichnung kann von Ärzten sämtlicher Fachrichtungen nach einer entsprechenden Ausbildung erworben werden. "Dabei sollen diese Ärzte", so der DGSS-Präsident, " nicht den "normalen" Schmerz behandeln, sondern jene Patienten, bei denen der chronische Schmerz seine Warnfunktion verloren hat und zur eigenständigen Krankheit geworden ist. Denn diese Therapie erfordert Spezialwissen."Schätzungsweise 2000 bis 2500 solcher Spezialisten wären für eine flächendeckende Versorgung in Deutschland erforderlich und ausreichend, wenn alle anderen Ärzte ausreichende Kenntnisse in der allgemeinen Schmerztherapie hätten. "Hier beißt sich aber die Katze in den Schwanz", so Lehmann. Denn offenkundig mangele es hierzulande bei den entscheidenden Institutionen am notwendigen Problembewusstsein.

    Studie belegt: Tumorpatienten werden in München nicht ausreichend schmerztherapeutisch behandelt.

    Mangelndes Wissen vieler Ärzte und fehlende Experten sind ein entscheidender Grund dafür, dass die Opiat-Versorgung von Patienten mit starken Schmerzen immer noch mangelhaft ist. "Zwar hat sich graduell einiges verbessert", meint der DGSS-Präsident, "doch ein Durchbruch ist noch nicht erreicht." Dies belegt etwa auch eine Untersuchung aus dem Tumorzentrum München, die auf dem Deutschen Schmerzkongress vorgestellt wird. Die Wissenschaftler um Professor Dieter Hölzel überprüften, ob Tumorpatienten in der Region München nach den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation schmerztherapeutisch behandelt werden. "Unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass die schmerztherapeutische Versorgung der Patienten unzureichend war. Denn nur ein geringer Anteil der unter Schmerzen leidenden Patienten wurden maximal behandelt", so das dürre Fazit.

    Das Problem besteht im Kopf, nicht auf dem Papier.

    Dabei dürfe die Betäubungsmittel-Verschreibungs-Verordnung nach ihrer Novellierung keinen Grund mehr darstellen, dass Ärzte diese starken Medikamente nicht so verordnen, wie sie dies nach Meinung von Experten tun sollten. Lehmann: "Das Problem besteht im Kopf, nicht auf dem Papier." Nachdem es inzwischen internationale Empfehlungen gibt, wie Morphin und seine synthetischen Abkömmlinge, die Opioide, nicht nur bei Tumorschmerzen, sondern auch bei anderen starken Schmerzen eingesetzt werden können, wird die DGSS im nächsten Jahr nach einem öffentlichen Hearing auch für den deutschsprachigen Raum diese Empfehlungen aufarbeiten.

    Auch die aktuelle Gesundheitspolitik erschwert eine angemessene Behandlung von chronischen Schmerzen, unter denen in Deutschland etwa sieben bis zehn Millionen Patienten leiden und von denen schätzungsweise 650000 besonders schwer betroffen sind. So wurden beispielsweise in den meisten Regionen der Republik, regional aber unterschiedlich, inzwischen die Vergütungen für jene Spezialisten teilweise mehr als halbiert, die an den so genannten Schmerztherapievereinbarungen der Ersatzkassen teilnehmen.

    Die Höhe des Budgets für Arzneimittel und sogennnte Richtgrößen sorgen dafür, dass ein Schmerztherapeut bei Dauerverordnungen von Opioiden bei nur wenigen Patienten sein Budget bereits überschreitet. Regressforderungen der Kassenärztlichen Vereinigungen werden die Folge sein. Durch eine Mischkalkulation konnten viele Ärzte bislang dennoch die Versorgung der Patienten aufrecht erhalten. Doch inzwischen geben die ersten auf. So musste jetzt ein niedergelassener Schmerztherapeut in Potsdam die ambulante schmerztherpeutische Betreuung sterbender Tumorpatienten nach zehnjähriger Tätigkeit einstellen, da sein Praxisbudget seit einem Jahr weder Konsultationen, noch Hausbesuche abdeckt. Dabei hatte seine Tätigkeit teuere Klinkeinweisungen verhindert. Weitere Praxen, die am Rande der Wirtschaftlichkeit arbeiten, dürften folgen.

    In Mecklenburg-Vorpommern wurde die Abteilung für Schmerz- und Palliativmedizin des Krankenhauses Rüdersdorf aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen, die Patienten auch ambulant betreute. Krankenkassen hatten sich geweigert die Behandlungskosten für bereits behandelte Patienten zu übernehmen und der Klinik so ein Einnahmendefizit von 300.000 Mark beschert.

    Pressestelle des Deutschen Schmerzkongresses:
    Barbara Ritzert, ProScientia GmbH
    Andechser Weg 17; 82343 Pöcking;
    Tel. 08157/93 97-0; Fax: 08157/93 97-97
    während der Tagung: Tel. 089/2180-5590; Fax: 089/2180-5684
    e-mail: Presse@schmerzkongress.de

    Rückfragen an:
    Prof. Dr. Dr. Klaus A. Lehmann
    Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin
    Universität zu Köln
    Joseph-Stelzmann-Straße 9
    50924 Köln
    Tel.: 0221-478-6686, Fax: 0221-478-6688
    e-mail: Klaus.Lehmann@uni-koeln.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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