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Wissenschaft
Im menschlichen Gehirn sind Nervenzellen weit in der Unterzahl: Unser Denkorgan besteht zu fast neun Zehnteln aus so genannten Gliazellen. Welche Rolle dieser "Nervenkitt" (im Griechischen heißt Glia Kitt oder Leim) spielt, ist erst zum Teil verstanden. Ein internationales Forscherteam unter Beteiligung der Universität Bonn hat nun erstmals die mechanischen Eigenschaften der rätselhaften Neuroglia genauer unter die Lupe genommen. Ergebnis: Die Zellen sind ausgesprochen weich und flexibel. Einerseits scheinen dadurch die Nervenzell-Ausläufer leichter wachsen zu können. Andererseits könnten die Gliazellen aber auch eine Schutzfunktion übernehmen - ähnlich wie kleine Airbags.
Als der deutsche Pathologe Rudolf Virchow die Gliazellen entdeckte, hielt er sie für unscheinbare Helfer der eigentlichen Leistungsträger im Gehirn, der Neurone: Sie seien eine Art Leim, in den die Nervenzellen eingebettet seien und der sie zusammenhalte. Andere Zeitgenossen schrieben der Neuroglia eher eine Stützfunktion zu: Die Fortsätze der Nervenzellen sollten sich bei ihrem Wachstum demnach an ihr entlangranken wie Efeu an einer Mauer. Später erkannten Hirnforscher, dass Gliazellen viel mehr sind als nur passive Strukturelemente: Sie können selbst Botenstoffe ausschütten, in die Hirnbiochemie eingreifen und sich sogar untereinander vernetzen. Die mögliche mechanische Funktion der Gliazellen geriet darüber in Vergessenheit.
Mit der neuen Studie rückt sie wieder in den Blickpunkt: Unter Federführung der Universität Leipzig hat ein internationales Forscherteam nämlich erstmals die mechanischen Eigenschaften der Gliazellen genau vermessen. "Diese Ergebnisse zeigen, dass die althergebrachten Auffassungen - Stütze oder Leim - wohl beide falsch sind", betont der Bonner Neurowissenschaftler Professor Dr. Christian Steinhäuser. "Für eine Stütze sind die Zellen zu weich. Gegen die Leim-Hypothese spricht, dass sie sich ziemlich elastisch verhalten."
Die Forscher spekulieren, die weichen Zellen könnten im Hirn eine Art "Airbag-Funktion" wahrnehmen und die Neurone bei einer starken Erschütterung des Gehirns schützen. "Die relativ weiche Konsistenz unterstützt wahrscheinlich auch das Wachstum der Nervenzellen und die Etablierung von Verbindungen zu Nachbarzellen", erklärt Steinhäuser. Dafür sprechen Ergebnisse aus Zellkultur-Experimenten: Demnach wachsen Neurone umso besser, je weicher ihr Untergrund ist. "Dass die Substrathärte auch im lebendigen Organismus eine Rolle spielen könnte, hat man bislang ausgeblendet."
Gliazellen hätten auch eine Vielfalt von sehr aktiven Funktionen, betont Steinhäuser. "Unsere Studie sollte sicher nicht so interpretiert werden, dass Gliazellen nur passive, das heißt schützende oder mechanische Aufgaben übernehmen. Aber vergessen sollte man diesen Aspekt der Neuron-Glia Interaktionen nicht."
Viscoelastic properties of individual glial cells and neurons in the CNS. Yun-Bi Lu, Kristian Franze, Gerald Seifert, Christian Steinhäuser, Frank Kirchhoff, Hartwig Wolburg, Jochen Guck, Paul Janmey, Er-Qing Wei, Josef Käs, Andreas Reichenbach. PNAS, 7. November 2006
Kontakt:
Professor Dr. Christian Steinhäuser
Institut für Zelluläre Neurowissenschaften der Universität Bonn
Telefon: 0228/287-14669
E-Mail: Christian.Steinhaeuser@ukb.uni-bonn.de
Professor Dr. Andreas Reichenbach
Paul Flechsig Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig
Telefon: 0341/9725730
E-Mail: reia@medizin.uni-leipzig.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Biologie, Chemie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Informationstechnik, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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