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Wissenschaft
"Schau mal, wie der aussieht!"
Worueber und wozu sich Zuschauer beim Fernsehen unterhalten
Ach, was waren das doch fuer idyllische Zeiten, als es noch kein Fernsehen gab: Vater, Mutter und die Kinder abends um den Tisch vereint, wie sie miteinander spielen und sich unterhalten. Doch ging es frueher wirklich so zu, wie manche Menschen meinen? Zweifel sind erlaubt. Fest steht jedenfalls, dass auch das Fernsehen die Gespraeche nicht zum Erliegen gebracht hat. Aber was wird beim Fernsehen eigentlich gesprochen? Das haben Sprachwissenschaftler von der Chemnitzer Uni unter der Leitung von Prof. Werner Holly untersucht, gemeinsam mit ihren Kollegen von der Uni Trier und Soziologen der Uni Giessen. Finanziert wurde das Vorhaben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit 200.000 Mark, von denen zwei Drittel in Chemnitz zur Verfuegung standen.
Herkoemmliche Verfahren, wie etwa das Messen von Einschaltquoten sagen nichts darueber aus, wie wir im Alltag mit dem Fernsehen umgehen. Die Chemnitzer Wissenschaftler waehlten deshalb einen anderen Ansatz und verzichteten auf das Zaehlen: Sie stellten in den fernsehenden Familien Tonbandgeraete auf. Und weil es dabei um das "Wie", nicht um "Wieviel" ging, brachten sechs Haushalte (zwei in jedem Untersuchungsort) mehr als genug Material. Es zeigte sich, dass die meisten Zuschauer keineswegs stumm und steif vor der Glotze hocken - sie reden immer wieder miteinander. Mal wird nur kurz etwas eingeworfen, mal kommt es auch zu heissen Diskussionen. "Eigentlich kommt alles vor" so die Holly- itarbeiterin Angela Porst.
Typische Situation: Man sieht den VW-Manager Lopez und der Familienvater ruft: "Dracula!" - Zuallererst und am meisten wird gelaestert, nach dem Motto: "Schau mal, wie der aussieht!", wie im Schwimmbad oder im Strassencafe, wo man ueber die Voruebergehenden herzieht. Das ist nicht wirklich boesartig, sondern dient der dauernden Verstaendigung darueber, was man gemeinsam gut oder schlecht findet. Daneben gibt es haeufig - man hat ja auch noch anderes zu tun - Fragen von Nicht-Aufpassern, dann muss es schnell und kurz gehen: In wenige Worte wird viel hineingepackt. Da das laufende Programm nicht zu sehr gestoert werden darf, bleibt es oft bei Andeutungen, kurzen Kommentaren und Hinweisen. Manchmal entstehen trotz Knappheit regelrechte kleine "Gespraechsinseln". Es waere aber falsch, das Sprechen in "Haeppchen" als "fortschreitenden Sprachverfall" anzusehen und an gesprochene Sprache den gleichen Massstab wie an Schriftsprache anzulegen, meint die Projektmitarbeiterin Heike Baldauf.
Wichtigstes Ergebnis der Untersuchung: Die Zuschauer sind sehr eigenstaendig. Sie lassen sich nicht vorschreiben, was sie ueber ein Thema denken sollen. Sie haben vielmehr eine eigene Meinung und vertreten diese auch. Im Brennpunkt der Aufmerksamkeit dabei steht, was ganz persoenlich interessiert. Da kann dann die "herrliche Aussicht" auf eine Stadt, die man kennt, schon einmal wichtiger sein als die ermordete Hauptdarstellerin, die eigentlich im Mittelpunkt der Handlung steht.
In problematischen Faellen geht die eigene Sicht auch zu weit: So tut bei einer Reisesendung eine Zuschauerin fortgesetzt und hartnaeckig so, als ginge es um AEgypten (wohin sie selbst fahren will), nachdem sie das Stichwort "Tal der Koenige" gehoert hatte - dabei handelte der Bericht von der Suedsee! Fernsehen ist also vor allem Stoff fuer die eigenen Phantasien und Interessen. Der Zuschauer ist in jeder Hinsicht aktiv: Manchmal scheint es, als wuerde er den Akteuren im Fernsehen antworten, ja sogar auf sie einreden. So kennt vermutlich jeder die Anfeuerungsrufe aus der "ersten Reihe" beim Fussballspiel. Doch der Schein truegt. Wer zum Beispiel bei einem Quiz wie "Supergrips" laut mitraet, weiss natuerlich, dass Ingo Dubinski ihn ar nicht hoeren kann, wohl aber koennen es die anderen Zuschauer im Wohnzimmer. Und sie will man in Wahrheit beeindrucken.
An den vielfaeltigen Gespraechsfetzen koennen die Kommunikationswissenschaftler aber weit mehr erkennen. Sie lassen naemlich darauf schliessen, was Fernsehen eigentlich fuer uns ist. Sieht man meistens den Fernseher nur als eine Kiste zur Unterhaltung oder bestenfalls als "ein Fenster zur Welt", so zeigen die redenden Zuschauer, worauf es ihnen hauptsaechlich ankommt: Was sie im Fernsehen erleben, muss staendig an ihre Alltagswelt angeknuepft werden ("mir ist gestern auch..."), es muss uebersetzt werden und an die jeweiligen Beduerfnisse angepasst. Fernsehen, dieses Kaleidoskop ueber alles und jedes, ist wie ein dauernd verfuegbarer Kompass, mit dem wir uns in der grossen Welt und unserem kleinen Chaos taeglich neu orientieren - natuerlich miteinander redend. Das heimliche Thema vor dem Fernseher heisst deshalb jeden Abend wieder: Was ist los - und wie komme ich damit in meiner Welt zurecht?
(Autor: Hubert J.-Giess)
Weitere Informationen: Technische Universitaet Chemnitz-Zwickau, Germanistische Sprachwissenschaft, Prof. Werner Holly, 09107 Chemnitz, Telefon 03 71/5 31-49 08, Fax 03 71/5 31-40 52.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft
überregional
Forschungsprojekte
Deutsch
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