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18.01.2007 14:59

Kannibalismus im Mutterleib von Fliegen

Christel Lauterbach Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Justus-Liebig-Universität Gießen

    Das Essen von Menschenfleisch, sei es bei der Romanfigur Hannibal Lecter im "Schweigen der Lämmer" oder beim "Kannibalen von Rotenburg", verstößt gegen unser Werteverständnis. Selbst Kannibalismus durch Notleidende in Extremsituationen oder bei Naturvölkern wird mit Abscheu verfolgt. Anders als in der menschlichen Gesellschaft ist Kannibalismus im Tierreich weit verbreitet. Viele Tierarten fressen ihresgleichen oder sogar die eigenen Nachkommen unter Extrembedingungen, wie sehr große Individuenzahl oder Nahrungsmangel. Forscher am Institut für Tierphysiologie der Justus-Liebig-Universität Gießen haben nun Kannibalismus an einem nicht vermuteten Ort, in dem vermeintlich geschützten Mutterleib, gefunden: Bei Untersuchungen an einer amerikanischen Fliegenart stellten sie fest, dass die Anzahl der gesunden Larven (ca. 40 Maden), die sich im Mutterleib befinden, mit der Zeit zurückgeht. Gleichzeitig finden sich im Uterus der Fliegen immer mehr Überreste von Larven, Larven mit Verletzungen und besonders große Larven. Die gestorbenen Larven sind also gefressen worden, und die Verletzungen stammen von den Geschwistern im Mutterleib.

    Wozu könnte dieser Kannibalismus im Mutterleib dienen? Die Fliegenart benötigt für die Aufzucht ihrer Nachkommen einen Wirtsorganismus. Sie infiziert den Wirt nicht mit Eiern, sondern mit Larven. Dazu entwickeln sich die Larven sehr schnell im Mutterleib und warten. Das Warten kann aber sehr lange dauern, denn die Fliege muss den Wirt erst noch finden. Die Fliegen benutzen die akustischen Signale, die der Wirt produziert, und deren Produktion hängt wiederum stark vom Wetter ab. Daher erstreckt sich die Wirtssuche häufig über vier Wochen, und in dieser Zeit stehen den Larven keine Nahrungsquellen zur Verfügung. Also bleibt den Larven für ein Überleben in der Mutter nur eins: sich von ihren Geschwistern zu ernähren.

    Warum entwickeln sich alle Larven schon am Anfang der Saison, mit dem schwerwiegenden Nachteil des innermütterlichen Kannibalismus, also einer Reduktion des Fortpflanzungserfolgs der Mutter? Die Wissenschaftler Dr. Thomas deVries und Prof. Dr. Reinhard Lakes-Harlan vermuten, dass das mit der Dynamik im Parasit-Wirt-System zusammenhängt. Es gibt Jahre, in denen der Wirt in sehr großen Individuenzahlen auftritt. In diesen Jahren kann es für die Fliege vorteilhaft sein, schnell viele Wirte zu infizieren. Dazu werden ablagebereite Larven benötigt. Offensichtlich hat die Fliege keine Möglichkeiten vorherzusehen, wann diese Jahre auftreten. Um immer vorbereitet zu sein, nimmt die Fliegenart den Nachteil des Kannibalismus, den viele Larven aber überleben, in Kauf.

    deVries, T. & Lakes-Harlan, R. (2007): Prenatal cannibalism in an insect. Naturwissenschaften. DOI 10.1007/s00114-006-0213-z

    Kontakt:

    Prof. Dr. Reinhard Lakes-Harlan
    Institut für Tierphysiologie
    Abteilung Sinnes- und Nervenphysiologie
    Wartweg 95, 35392 Gießen
    Telefon: 0641 99-35270
    E-Mail: Reinhard.Lakes-Harlan@physzool.bio.uni-giessen.de


    Weitere Informationen:

    http://www.springerlink.com/content/1432-1904/
    http://www. ncbi.nlm.nih.gov/entrez/


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Informationstechnik
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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