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Wissenschaft
Jena. (19.04.00) Die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Friedrich-Schiller-Universität Jena wird künftig nicht mehr nach Prof. Dr. Jussuf Ibrahim heißen. Das beschloss der Senat der Universität Jena in seiner gestrigen (18.04.) Sitzung. Der Kinderarzt und ehemalige Klinikdirektor Ibrahim war zweifelsfrei nach 1941 aktiv in die nationalsozialistische "Kindereuthanasie" eingebunden.
Die im vergangenen November eingesetzte Wissenschaftler-Kommission "Kinderklinik Jussuf Ibrahim", die den Universitätsgremien ihre Ergebnisse vorstellte, belegte diesen Sachverhalt auch an Hand bislang unbekannter, Ibrahim belastender Dokumente, die sie im Verlauf ihrer Arbeit entdeckte. Der Fakultätsrat der Medizinischen Fakultät schloss sich gestern abend dem Senatsbeschluss an.
"Die Friedrich-Schiller-Universität gedenkt in tiefer Trauer der Kinder, die durch tätige Mitwirkung von Wissenschaftlern der Universität Jena und anderer deutscher Universitäten getötet wurden", lautet das Senatsprotokoll. Weiter heißt es: "Sie schließt in ihre Trauer auch all diejenigen Opfer ein, die im Zuge rassenhygienischer oder rassenpolitischer Maßnahmen ihr Leben verloren haben oder in ihrer körperlichen und geistigen Integrität und ihrer Würde verletzt wurden." Zugleich würdigte der Senat die wissenschaftliche Arbeit an der Universität Jena zur Erforschung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Diese Forschungen sollen fortgeführt und systematisiert werden.
Wichtigstes neues Dokument ist ein zweiter handschriftlicher Arztbrief Ibrahims vom 1. Oktober 1943, mit dem ein behinderter Säugling in die so genannte Kinderfachabteilung nach Stadtroda eingewiesen werden sollte. Ibrahim schrieb an den dortigen Leiter Prof. Gerhard Kloos: "Sehr verehrter Herr Kollege! S[.] Sch[.] aus E[.], jetzt 12 1/2 Mon. alt, leidet an Microcephalia vera. Ein Erbmoment ist nicht bekannt. Eine normale Entwicklung wird sich nicht erreichen lassen. Euthan. wäre durchaus zu rechtfertigen und im Sinne der Mutter. Vielleicht nehmen Sie sich des Falles an? Mit besten Empfehl. u. Heil Hitler! Ergebenst Dr Ibrahim" (Ende des Zitats). Das Kind überlebte jedoch, weil es nicht in Stadtroda aufgenommen wurde.
Für ein weiteres Kind liegt ein handschriftliches Überweisungsschreiben Ibrahims vor; insgesamt sind sieben Fälle schwerstgeschädigter Kinder bekannt und nachvollziehbar, die zwischen 1941 und 1945 unter der Verantwortung Ibrahims aus der Jenaer Kinderklinik ins Landeskrankenhaus Stadtroda überwiesen und dort getötet wurden. Aus der weiteren Dokumentenlage erkannte die Kommission, dass Prof. Ibrahim von der "Kindereuthanasie" in Stadtroda frühzeitig gewusst hat. Dass er dennoch schwerstgeschädigte Kinder dorthin überwies, sei mit dem bisherigen humanistischen Bild Ibrahims als vorbildlicher Kinderarzt nicht vereinbar.
Vielmehr bestehe die nunmehr begründete Annahme, "dass Ibrahim aus einer grundsätzlich positiven Einstellung zur Rassenhygiene heraus die Tötung schwerstgeschädigter Kinder nicht nur befürwortet, sondern dazu unmittelbar beigetragen hat", so der Kommissionsbericht. Für ihre Arbeit hat die Kommission Archivunterlagen aus Berlin, Ludwigsburg, Gera, Weimar, Jena und Stadtroda sowie Zeitzeugenberichte ausgewertet. Ein umfassender Abschlussbericht wird nach Ostern in einer Printfassung sowie im Internet publiziert.
Die Medizinische Fakultät spricht allen Angehörigen ihr tiefes Mitgefühl aus und beschloss, dem Andenken der Opfer einen bleibenden Ausdruck - durch eine Gedenktafel oder Skulptur - am Klinikumsneubau in Jena-Lobeda zu verleihen. Sie will die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Vergangenheit in Lehre und Forschung wach halten und "die Tragweite der Verbrechen stets deutlich machen, damit ein solches Geschehen sich nicht wiederholen kann", so der Fakultätsrat.
FSU-Mediendienst
Friedrich-Schiller-Universität
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Medizin
überregional
Organisatorisches, Wissenschaftspolitik
Deutsch
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