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Wissenschaft
Von der 13. Europäischen Konferenz zur Entwicklungspsychologie an der Universität Jena
Jena (24.08.07) Wenn Politiker über sozialen Wandel in Deutschland reden, dann fallen Schlagworte wie Globalisierung, Langzeitarbeitslosigkeit und Hartz IV, demographische Falle, Pflegenotstand oder Berufsbildungsunfähigkeit. Von den Bürgern fordern Politiker und Wirtschaft einerseits Mobilität, Flexibilität und den Abschied von vielen liebgewordenen Gewohnheiten - andererseits aber auch Bürger- und Familiensinn, gesellschaftliches Engagement und Solidarität.
Wie aber empfinden die Betroffenen die Veränderungen, denen sie sich stellen müssen, ob sie wollen oder nicht? Welche Strategien entwickeln sie, mit diesen Anforderungen umzugehen? Antwort auf solche Fragen suchen Entwicklungspsychologen der Friedrich-Schiller-Universität Jena in dem Forschungsprojekt "Individuelle und soziale Ressourcen für den Umgang mit sozialem Wandel". Dabei handelt es sich um das einzige psychologische Teilprojekt in dem DFG-geförderten Sonderforschungsbereich (SFB) 580 "Gesellschaftliche Entwicklung nach dem Systemumbruch: Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung".
Die bisherigen Forschungsergebnisse präsentiert das Wissenschaftlerteam um Prof. Dr. Rainer K. Silbereisen und PD Dr. Martin Pinquart heute mit dem Symposium "Psychosocial Resources and Coping with Social Change" auf der 13th European Conference on Developmental Psychology. Diese bedeutendste Tagung der europäischen Entwicklungspsychologen wird vom 21.-25. August 2007 durch das Center for Applied Developmental Science (CADS) der Friedrich-Schiller-Universität Jena ausgerichtet.
Die Psychologen befragten knapp 3.000 Personen im Alter von 16 bis 42 Jahren zum erlebten sozialen Wandel, dessen Bewältigung, dabei wirkender Ressourcen und einer Vielzahl von Folgen für Verhalten und Entwicklung. Um möglichst homogene Regionaleinheiten und innerhalb dieser wiederum eine ausreichende Anzahl von Befragten zu bekommen, beschränkten sie sich auf vier Bundesländer: Ausgewählt wurden jeweils in West und Ost die wirtschaftlich erfolgreichsten Bundesländer - Baden-Württemberg und Thüringen - sowie diejenigen, die wirtschaftlich vergleichsweise am schlechtesten abschnitten - Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.
Die Bewältigung der deutsch-deutschen Wiedervereinigung
Die Studien der Jenaer Forscher beschäftigten sich zunächst mit der Bewältigung der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Sie untersuchten, wie Menschen mit den veränderten Anforderungen umgehen und welche Auswirkungen sich daraus auf die Lebensgestaltung ergeben. Dabei gingen sie unter anderem von der Annahme aus, dass sich angesichts der Übernahme des politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Systems der alten Bundesrepublik in den neuen Bundesländern in kurzer Zeit auch das Verhalten der Ostdeutschen an das der Westdeutschen annähern würde. Doch es zeigte sich schnell, dass die Folgen der politischen Wende mitnichten als nachgeholte Modernisierung beschrieben werden können, also als Beschleunigung eines ohnehin verlaufenden Modernisierungsprozesses, der durch Demokratisierung, technologische Umwälzung und Individualisierung der Lebensbewältigung gekennzeichnet ist. "Dieses Konzept war schon deshalb nicht schlüssig, weil die DDR in einzelnen Aspekten - etwa der Verfügbarkeit von Plätzen in Kindertagesstätten oder in Bezug auf den Anteil außerehelich geborener Kinder - ,moderner' war als die alte Bundesrepublik", meint Silbereisen.
Auch die erwartete Angleichung von Verhaltensweisen der Ostdeutschen zeigte sich nur teilweise. Zwar näherten sich zum Beispiel - wie erwartet - in den Jahren nach der Wiedervereinigung die Zeitpunkte jener psychosozialen Übergänge an, die stark von den westdeutsch geprägten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst wurden, wie der Zeitpunkt der Entwicklung erster Berufsvorstellungen und des Übergangs von der Ausbildung in den Beruf. Jedoch stellte sich heraus, dass beispielsweise die ursprünglich höhere Geburtenrate der Ostdeutschen nicht nur auf das Niveau der Westdeutschen, sondern Mitte der 90er Jahre bis fast zur Hälfte dieser Rate absank. "Auch die Zahl der Eheschließungen sank im Osten Deutschlands zwischen 1989 und 1994 um 62 Prozent und damit ebenfalls deutlich unter das Niveau der Westdeutschen", berichtet der Psychologe von der Universität Jena. "Diese Veränderungen sprechen für eine große Unsicherheit über die Zukunft, der mit der Vermeidung des Eingehens langfristiger Verpflichtungen begegnet wurde."
Mittlerweile sind die Langzeitfolgen der deutschen Vereinigung überlagert von allgemeineren gesellschaftlichen Veränderungen, die in allen Industriestaaten zu beobachten sind. Dabei geht es insbesondere um drei große Herausforderungen mit ihren Risiken, aber auch mit vielen Chancen, denen sich die Menschen in ganz Deutschland derzeit stellen müssen. Das ist zum einen die Globalisierung mit all ihren Auswirkungen - vor allem im Bereich der Arbeit. "Innerhalb weniger Jahre gingen in Deutschland zahlreiche Arbeitsplätze im produktiven Bereich durch die Verlagerung der Produktion in Länder mit einem geringeren Lohnniveau verloren", erläutert Silbereisen. "So waren Angaben des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung zufolge 2001 in Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen in den ehemaligen Ostblockländern 830.000 Arbeitnehmer tätig. 1990 hatte diese Zahl noch nahe bei Null gelegen." Nach dem Fall der Mauer kamen auch die Menschen in Ostdeutschland in den Genuss der Reisefreiheit - und im Gegenzug verstärkt in Kontakt mit Vertretern anderer Kulturen.
Zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebensläufen
Die zweite charakteristische Tendenz des sozialen Wandels in Deutschland und darüber hinaus ist die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebensläufen, die den herkömmlichen Abläufen - erst Ausbildung, dann Arbeitsaufnahme und schließlich Familiengründung - widerspricht. "Viele Menschen nehmen den Wegfall verbindlicher Regeln als Zunahme von Unsicherheit wahr", sagt PD Dr. Martin Pinquart. Der Jenaer Entwicklungspsychologe ist an den Forschungen im Rahmen des SFB 580 maßgeblich beteiligt. Er hat kürzlich den Ruf auf eine Professur an die Phillips-Universität Marburg angenommen.
Wenn Arbeitsplatz und Aufstieg eher unsicher sind, Arbeitslosigkeit vom Hilfsarbeiter bis zum Manager jeden treffen kann und es erforderlich werden kann, mehrfach umzuziehen oder sogar den Beruf komplett zu wechseln, dann hat das Auswirkungen: "Die Menschen reagieren darauf, indem sie länger in der Ausbildung bleiben und einen höheren Abschluss anstreben sowie die Familiengründung aufschieben", so Pinquart.
Doch auch die Familie ist nicht länger ein Hort der Sicherheit und des Zusammenhaltes. Der Trend geht zum Lebensabschnittsgefährten. Die Statistik spricht eine klare Sprache: Immer mehr Menschen verzichten auf eine Eheschließung und leben ohne Trauschein zusammen. Junge Menschen bleiben länger Single. Beziehungen werden zunehmend instabil, immer mehr Ehen werden geschieden und immer mehr Kinder wachsen bei Alleinerziehenden auf. "Folglich sind Menschen auch im familiären Bereich mit mehr Unsicherheit konfrontiert", so Pinquart, "weil es für die Wahl einer Familienform immer weniger verbindliche Vorbilder gibt und weil die Langzeitfolgen von Entscheidungen schwer vorhersehbar sind." Auch das öffentliche Leben gibt nicht länger klare Normen vor. Die Vielfalt denkbarer Lebensmuster wird von den Bürgern zunehmend auch als Beliebigkeit und Werteverfall erlebt.
Beständige Alterung der Bevölkerung
Eine dritte markante Tendenz des sozialen Wandels in Ländern wie Deutschland ist die beständige Alterung der Bevölkerung durch die immer höhere Lebenserwartung und die anhaltend niedrige Geburtenrate. "Die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung erzwingt es, dass Menschen mehr Selbstverantwortung für ihre spätere finanzielle Alterssicherung aufbringen müssen", so Prof. Silbereisen. "Zugleich können sie kaum noch davon ausgehen, dass ihre Familie sie im Alter unterstützen wird." Denn die Familien werden kleiner und sie leben immer öfter auch nicht mehr nahe beieinander.
Solche gesellschaftliche Veränderungen beeinflussen in vielfältiger Weise den Lebensalltag der Menschen. Wie aber gehen Individuen konkret mit diesen Anforderungen um? Und wie verbreitet sind psychosoziale Ressourcen zur Bewältigung des Wandels, etwa Selbstwirksamkeitserwartungen, Neugier und soziale Unterstützung? Die Jenaer Entwicklungspsychologen haben auch danach gefragt, ob stärkere wandelbezogene Anforderungen mit einem schlechteren psychischen Befinden einhergehen und ob dieser Zusammenhang durch individuelle sowie soziale Ressourcen und die allgemeine Einstellung zum sozialen Wandel beeinflusst wird.
Insgesamt zeigen die vorliegenden Ergebnisse, dass es einen durchgängigen Zusammenhang zwischen dem erlebten sozialen Wandel und einer Vielzahl von Aspekten gelungener wie problematischer psychosozialer Entwicklung gibt. Allerdings variiert dies in Abhängigkeit davon, ob Betroffene viele individuelle bzw. soziale Ressourcen zu deren Bewältigung mitbringen, wie sie mit dem Wandel umgehen und ob sie in einer opportunitätsreicheren (z. B. wirtschaftlich starken) oder aber diesbezüglich ärmeren Region leben. "So haben wir festgestellt: Wenn Menschen in einer Region leben, in der viele Bewohner von ähnlichen Schwierigkeiten betroffen sind, dann haben die eigenen Probleme keine negativen Auswirkungen mehr auf das persönliche Befinden", fasst Pinquart zusammen.
Die ursprünglich als Querschnitt angelegte Studie an einer repräsentativen Stichprobe wird derzeit durch wiederholte Befragungen bei 600 der ursprünglichen Teilnehmer ergänzt und so zu einer Längsschnitt-Studie erweitert. "Darüber hinaus sind auch Interventionsstudien geplant", erklärt Silbereisen. "Damit wollen wir testen, wie sich die Förderung von psychosozialen Ressourcen und eines proaktiven Umgangs mit sozialem Wandel auf die weitere psychosoziale Entwicklung auswirkt." So haben Jenaer Wissenschaftler zusammen mit Studierenden aus Deutschland und den USA das Kompetenztrainingsprogramm "SCHuuuB!" entwickelt, das Schülerinnen und Schülern der Klassenstufen acht und neun beim Übergang von der Schule in den Beruf unterstützen soll. Solche Programme sollen einerseits der Überprüfung von wissenschaftlichen Thesen dienen und andererseits Wege für die Förderung einer positiven Entwicklung ungeachtet des Drucks sozialen Wandels erproben.
Kontakt:
Professor Dr. Rainer K. Silbereisen
Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena / Center for Applied Developmental Science
Am Steiger 3/1
07743 Jena
Tel.: 03641 / 945201
E-Mail: Rainer.Silbereisen[at]uni-jena.de
Professor Dr. Martin Pinquart
Fachbereich Psychologie der Universität Marburg
Gutenbergstr. 18
35032 Marburg
Tel.: 06421 / 2832626 (Mi-Fr) bzw. 03641 / 945210
E-Mail: Martin.Pinquart[at]uni-jena.de
http://www.esdp2007.de/index.htm
http://www.sfb580.uni-jena.de/
http://www.uni-jena.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Psychologie
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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