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Wissenschaft
Pflanzen koennen sehen
Neues aus der Pflanzenphysiologie: Lichtrezeptorproteine entdeckt, die denen im menschlichen Auge aehneln
Wer hat nicht schon einmal beobachtet, dass Pflanzen, die am Fensterbrett stehen, zielstrebig zum Licht hin wachsen. Dabei kruemmen sich die normalerweise aufrecht stehenden Sprosse in Richtung des seitlich einfallenden Lichtes, und die Blaetter drehen sich wie Satellitenschuesseln senkrecht zum Lichteinfall. Botaniker der Universitaet Tuebingen sind dem Phaenomen einer solchen eigenwilligen Wachstumsbewegung, in der Fachsprache Phototropismus genannt, schon seit einiger Zeit auf der Spur. Jetzt vermelden die Wissenschaftler vom Lehrstuhl fuer Allgemeine Botanik und Pflanzenphysiologie der Universitaet Tuebingen Erstaunliches: Auch Pflanzen haben "Augen", mit denen sie die Einfallsrichtung des Lichtes erkennen. Beweisen koennen die Forscher ihre gewagte Behauptung durch die Entdeckung eines blaulichtabsorbierenden Proteins, das dem Rhodopsin in den Augen des Menschen aehnlich ist.
Die Einfallsrichtung des Lichtes wahrzunehmen, ist fuer Pflanzen lebensnotwendig. Denn nur, wenn die Blaetter genuegend Licht absorbieren koennen, wird die Pflanze auch genuegend Energie zur Verfuegung haben, um aus dem gasfoermigen Kohlendioxid der Luft und aus Wasser organische Molekuele wie Zucker, Staerke und daraus schliesslich Fette und Eiweisse aufzubauen. Damit dieser als Photosynthese bekannte Prozess optimal ablaufen kann, muessen die Blaetter der Pflanze durch entsprechende Wachstumsbewegungen staendig "ins rechte Licht" gerueckt werden.
Beobachtungen aus den 30er Jahren haben gezeigt, dass nur die obersten Bereiche pflanzlicher Sprosse etwas mit der Ausloesung der phototropischen Kruemmungsreaktion zu tun haben koennen. Versuche an der sogenannten Koleoptile von Maiskeimlingen haben diese Tatsache besonders deutlich gemacht. Bei der Koleoptile handelt es sich um ein Handschuhfinger-artiges farblos erscheinendes Organ, das einige Zentimeter lang und wenige Millimeter dick ist und das erste Blatt des Keimlings schuetzend umhuellt. Es soll waehrend der Keimung des Maiskorns das Blatt unverletzt ans Tageslicht bringen und kann zu diesem Zweck stark in die Laenge wachsen. Bedeckt man nun beim Versuch die Spitze der Koleoptile mit einem Huetchen, reagiert das gesamte Organ nicht mehr auf Licht. Offensichtlich sitzt der Lichtsensor, der das Lichtsignal erkennt, also nur in der obersten Spitze des Organs. Von dieser lichtabsorbierenden Region werden nach einem einseitig gegebenen Lichtimpuls raeumlich verschiedene chemische Signale ausgesandt, was letztlich zu der Kruemmung fuehrt. Erstaunlicherweise ist die Lichtempfindlichkeit dieser Spitzenregion fast so gross wie die des menschlichen Auges. Schon Kerzenlicht loest die Kruemmung aus.
Weiter stellte sich heraus, dass eine Kruemmungsreaktion nur durch den blauen Spektralbereich des einfallenden weissen Lichtes zustandekommt. Im Hinblick auf das Richtungssehen ist die Pflanze also rot-gruen-blind, obgleich sie rot und blau bei der Photosynthese sehr wohl absorbieren und als Energiequelle verwenden kann.
Entdeckung des pflanzlichen Sehmolekuels
Den Tuebinger Wissenschaftlern ist es jetzt gelungen, ein pigmenthaltiges Protein zu identifizieren, das fuer die Erkennung des Lichtsignals und fuer die Weiterleitung der Information, d.h. fuer die Ausloesung der Kruemmungsreaktion verantwortlich ist. Strahlt man geringste Mengen an Blaulicht auf die Spitzen von Koleoptilen, wird das Protein in einer sehr schnellen Reaktion phosphoryliert, d.h., es werden Phosphatgruppen an Aminosaeuren des lichtaktivierten Molekuels angehaengt.
Auch die Frage, wo in den Zellen des Maiskeimlings die Photorezeptoren genau liegen, konnten die Wissenschaftler beantworten. Sie befinden sich ausschliesslich in den Zellmembranen (Plasmalemma) der Koleoptilspitze, d.h. im lichtempfindlichen Bereich und sonst nirgendwo. Dies bestaetigt, dass sich das "Auge" des Maiskeimlings nur in der Spitzenregion befindet.
Aehnlichkeit mit dem menschlichen Auge
Ein Gluecksfall fuer die Untersuchung war es, dass die aus den Zellen der Koleoptile isolierten Photorezeptoren immer noch auf Licht reagierten. Dadurch wurde die Untersuchung bestimmter Eigenschaften und Charakteristika in der Zellkultur sehr erleichtert. Es zeigte sich, dass ein zentral im Photorezeptor lokalisiertes gelbes Pigment, ein Flavin, fuer die Absorption des blauen und langwelligen UV-Spektralbereiches verantwortlich ist. Ferner wurde deutlich, dass Aufbau und funktionelle Struktur dieses pflanzlichen Lichtrezeptorproteins grosse Aehnlichkeiten mit einem Photorezeptormolekuel haben, das in den Staebchen der Netzhaut des Auges von Tier und Mensch vorkommt, naemlich dem Rhodopsin. Dieses Molekuel besitzt im Zentrum ebenfalls ein lichtabsorbierendes Pigment, in diesem Falle das Retinal. Allerding ist die Weiterleitung des Lichtreizes in Tier und Pflanze verschieden: Vom Rhodopsin wird das Lichtsignal ueber Nervenbahnen sehr schnell zum Gehirn geleitet. Bei Pflanzen, die ja keine Nerven besitzen, ist die Signalleitung langsamer. Sie erfolgt vom phosphorylierten Photorezeptor ueber eine Kaskade von weiteren Proteinphosphorylierungen in den Zellkern. Dort werden die Aktivitaeten bestimmter Gene veraendert. Dies fuehrt wiederum dazu, dass der Transport von Wuchshormonen verringert wird, so dass das Zellgewebe, das sich unterhalb der lichtangeregten Sensorzellen in der Lichtflanke befindet, langsamer waechst als die Schattenflanke, was schliesslich die Kruemmungsbewegung zum Licht ausloest.
Die Aehnlichkeit der neu entdeckten blaulichtabsorbierenden Proteine mit dem Rhodopsin in den Augen des Menschen laesst darauf schliessen, dass die Entwicklung lichtabsorbierender Proteine in pflanzlichen und tierischen Organismen waehrend der Evolution zwar unabhaengig voneinander, aber mit einem ueberraschend aehnlichen Ergebnis erfolgt ist. Es hat allerdings ueber hundert Jahre gedauert, bis nach den ersten Beobachtungen Darwins ueber die phototrophische Reaktion der Pflanzen das Raetsel geloest werden konnte, wie Pflanzen die Einfallsrichtung des Lichtes feststellen koennen.
Weitere Informationen: Prof. Dr. Achim Hager, Institut fuer Botanik, Allgemeine Botanik und Pflanzenphysiologie, Auf der Morgenstelle 1, 72076 Tuebingen, Telefon.: 0 70 71 / 29 - 26 05, Telefax: 0 70 71 / 29 - 32 87
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