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Forschungsergebnisse zu "Zwangssterilisation an der Universität Tübingen"
Der Arbeitskreis "Universität Tübingen im Nationalsozialismus" hat sich in mehreren Sitzungen dem Thema "Zwangssterilisation an der Universität Tübingen" gewidmet. Zwischen 1934 und 1944 wurden an den Universitätskliniken Tübingen mindestens 1158, vermutlich jedoch 1243 Personen zwangssterilisiert. Die Direktoren der Frauen-, Nerven-, und Chirurgischen Universitätsklinik führten Sterilisationen teilweise schon vor 1933 auch ohne Gesetzesgrundlage durch. Nach 1945 galten alle Beteiligten allerdings als entlastet. Die Opfer der Zwangssterilisationen litten nicht selten ihr Leben lang psychisch und körperlich unter den Folgen der Operation, wurden aber trotz geringer Entschädigungszahlungen bis heute nicht offiziell als NS-Verfolgte anerkannt.
Der eugenische Grundgedanke, dass psychische Krankheiten und körperliche Anomalien vorwiegend erblich bedingt seien und durch Maßnahmen, die die Weitergabe des vermeintlich 'minderwertigen' Erbgutes verhindern sollten, indem sie die Fortpflanzung des Betroffenen unterbinden, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit verbreitet. Im nationalsozialistischen Deutschland resultierte dieses Konzept von Bevölkerungspolitik in dem 'Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses', das heute vor 75 Jahren, am 14. Juli 1933 verabschiedet wurde. Nach diesem konnte wer an "1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht [Epilepsie, A.d.V.], 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer körperlicher Mißbildung" oder "an schwerem Alkoholismus leidet", zwangsweise sterilisiert werden. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden zwischen 1934 und 1945 mehr als 300.000 Männer, Frauen und Jugendliche unter der Androhung von polizeilichem Zwang operativ unfruchtbar gemacht.
Die medizinische Fakultät der Universität Tübingen hatte ideellen und praktischen Anteil an dieser Maßnahme: So sprach sich der Direktor der Universitätsnervenklink Prof. Dr. Robert Gaupp (1870-1953) bereits im Jahre 1925 für Sterilisationen aus eugenischen Gründen, insbesondere bei 'Schwachsinnigen', Epileptikern, 'Psychopathen' und rückfälligen Verbrechern aus. Ein weiterer Tübinger Ordinarius, der schon früh eugenische Sterilisationen, notfalls unter Zwang, befürwortete, war der Leiter der Universitätsfrauenklinik, Prof. Dr. August Mayer (1876-1968), der bereits vor Einführung des 'Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' drei 'schwachsinnige' Mädchen mit der Zustimmung derer Vormünder sterilisierte.
Da der größte Teil der durch das Gesetz Betroffenen als psychisch krank galt, hatte die Universitätsnervenklinik eine zentrale Bedeutung im Verfahren: zum einen durch die Anzeige ihrer eigenen Patienten - sie meldete bereits im ersten Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes 36% der Patienten dem zuständigen Amtsarzt - zum anderen durch Gutachten, die die Ärzte der Klinik im Auftrag von Erbgesundheitsgerichten übernahmen. Ihren Höhepunkt erreichte diese Gutachtenpraxis der Nervenklinik im Jahre 1936 mit 180 Begutachtungen, wobei in mehr als der Hälfte der Fälle dem Erbgesundheitsgericht die Sterilisation der Betroffenen nahegelegt wurde. Weitere Gutachten für Erbgesundheitsverfahren übernahmen die Universitäts-HNO-Klinik und die Universitäts-Augenklinik.
Auch die Durchführung der Sterilisationen oblag Universitätskliniken: So wurden Frauen an der Universitäts-Frauenklinik und Männer an der Chirurgischen Universitätsklinik operiert. An diesen beiden Kliniken wurden in der Zeit des Nationalsozialismus mindestens 1158 Personen, vermutlich sogar 1243 Personen, aus eugenischen Gründen zwangsweise unfruchtbar gemacht. Hiervon waren deutlich mehr Frauen (mindestens 655, vermutlich 740) als Männer (mindestens 503) betroffen. Der Eingriff war bei diesen deutlich gefährlicher, so dass mindestens vier Frauen an den Folgen der Operation starben. Außerdem wurde bei mindestens 46 Frauen deren Schwangerschaft mit eugenischer Begründung abgebrochen.
Mayer und der bereits 1936 emeritierte Gaupp galten nach 1945 als politisch unbelastet. Mayer blieb bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1949 Direktor der Frauenklinik. Die öffentliche Auseinandersetzung mit ihrem Verhältnis zur nationalsozialistischen Rassenhygiene setzte erst viele Jahre nach deren Tod ein.
Personen, die im Rahmen des 'Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' zwangssterilisiert worden waren, litten nicht selten ihr Leben lang psychisch und körperlich unter den Folgen der Operation. Ihnen wurde erst in den 1980er Jahren im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgegesetz (AKG) Einmalzahlungen und geringe laufende Leistungen als Wiedergutmachung zugesprochen. Die Urteile der Erbgesundheitsgerichte wurden 1998 insgesamt aufgehoben. Eine förmliche Anerkennung als Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes fand jedoch bis heute nicht statt.
Der Arbeitsgruppe gehörten an: Dr. Thorsten Doneith, Dr. Bernd Grün, Oonagh Hayes, M.A., Jens Kolata, Stefanie Westermann, M.A.
Redaktion: Jens Kolata, Prof. Dr. Urban Wiesing
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Urban Wiesing
Sprecher des Arbeitskreises Universität Tübingen im Nationalsozialismus
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Tel.: (07071) 29-78015
E-Mail: urban.wiesing@uni-tuebingen.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Medizin, Politik, Recht
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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