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Wissenschaft
Buchpremiere des neuen Erzählbandes von Edwin Kratschmer am 26. September
Jena (23.09.08) "Blaurausch" heißt der neue Erzählband von Edwin Kratschmer und ist der Erzählkranz eines 77-Jährigen. Seine Texte pflügen tief im Jahrhundertacker. Denn die Biografie des Autors weist aus: vier Staatsbürgerschaften, drei Diktaturen, Krieg, Dezimierung der Familie, Todesmarsch, Zwangsarbeit, Vertreibung und mehrere Berufe vom Landarbeiter bis zum Literaturprofessor. Was kann sich in solchem Leben nicht alles ansammeln an Erfahrungen und Konflikten! Seinen neuen Erzählband wird Edwin Kratschmer anlässlich der Buchpremiere am 26. September, um 19.30 Uhr in der Rathausdiele im Jenaer Rathaus (Markt 1) vorstellen.
In Kratschmers Roman "Habakuk oder Schatten im Kopf" (2001) ist schon nachzulesen: Jedes Wort kann beladen sein mit der Erfahrungslast eines ganzen Lebens. Am Ende dann die Wörter, die das Leben kosten könnten. Eigentlich vermutet man, ein professoraler Schreiber verfasse seine Texte mit akademischer Akribie, aber stattdessen gesteht der Autor: "Es hat halt aus mir geschrieben, ich weiß nicht einmal ob Kopf oder Bauch." Und Schreiben sei ihm: "Geworte aus sich pressen." In der Erzählung "Urrichs Vermächtnis", der zweiten im Erzählreigen, beschreibt er denn auch den flagranten Konflikt zwischen Wissenschaft und Kunst: Der Rilke-Forscher Urrich muss erkennen, dass er für die Wissenschaft verloren ist, sobald er zu sehr seiner Subjektivität vertraut; der Lohn aber ist seine Ankunft in der Kunst und er erfährt: "Jetzt erst ist er reif, sich rückhaltlos in einen Text zu stürzen, sich ohne Selbsterbarmen in ihn fallen zu lassen. Und er fühlt sich Pygmalion und Prometheus werden, Schöpfergott und Spieler, der seine Figuren gnadenlos aufs Schachbrett kippt, das sofort zum Schlachtfeld gerät. Und er prasst in fremden Seelen und häutet sie rücksichtslos. Er treibt die Dinge jäh bis an bitteres Ende. Doch welche Gnad und Ungnad, in grenzenlos opulenter Fantasie zu weiden! Und er floss hin und fand zu keinem End." Man kann das gewiss als eine Selbstaussage des Autors werten.
Aus solchen Passagen wird auch Kratschmers Hauptproblem erkennbar: Wie kann/soll einer schreiben, der als von der Historie gebranntes Kind lebenslang an seinen Wunden trägt und oft nicht weiter weiß? Und wir können nacherleben, wie das Wort aus ihm heraus bricht und zu Literatur aufstylt. Da kann sich der Leser nimmer schützen, sobald er sich auf die Texte einlässt. Er gerät unvermutet in den Sog des Mit-, Nach- und Neudenkens.
Mit seinen Helden - besser Antihelden - schafft der Autor ein Spektrum von Ich-Möglichkeiten und versucht zugleich eine Zustandsbeschreibung einer so genannten geistigen Elite, die in der Historie immer mal wieder versagt. Es sind also zumeist Intellektuelle (der "Abgrund Mensch"), die arg verstrickt sind in die Zwänge ihrer Zeit und deren Leben missglückt und fehl gelaufen ist, die verspielt haben, u. a. ein Lehrer - der Autor ist selbst drei Jahrzehnte Lehrer gewesen -, der hinter seinen Erfolgen mit Schrecken seine Dunkelseiten entdeckt ("Lehrer Läpple"), ein anderer, der von der Vergangenheit eingeholt und zum Informanten wird ("Fimms Ende"), ein Autor, der nach gescheiterter Ehe sein Lebenswerk verbrennt ("Fellers Fluchten"), ein Farbforscher, der in Rausch und Tourette verfällt ("Blaurausch"), eine Mutter, die sich entsorgen lässt ("Meergang"), ein Künstler, der seinen "Zwilling im Geiste" ans Messer liefert ("Borderline"), ein erfolgreicher Gelehrter, der sich aus der Welt stürzt ("Ikaros"). Und man liest entsetzt: "Nichts ist faszinierender als ein sich gnadenlos enthüllender Mensch, der dabei ist, sich zwischen Kühnheit und Angst auszuformulieren als eigener Denunziant. Jedes Wort ein Lastkahn, schuldschwer, und in ihm das ganze Leben samt hinterlassner Toter, freilich umlauert und umgeifert von eifersüchtiger Brut Selbstzensur. Und jedes Wort durchkreuzt von Trieb und Trug, von Gebot und Verbot, von Lust und Frust. Sprechen also als gewagtes Handeln, sich selbstvergessen seinem eignen Messer aussetzen, sich schamlos aufschlitzen und in diabolischer Besessenheit seine Innereien ausbreiten."
Derart wird in den zehn albtraumhaften und bestürzend abgründigen Erzählungen das Leben zwiespältiger Existenzen offenbar, in denen zuweilen mehrere Seelen einhausen. Und die Texte lesen sich bald wie Krankenberichte, bald wie Fallstudien mit essayistischen Einschlüssen. Es mag provozieren und aufstören, wie da das Gute zu Bösem kippt und Böses zuweilen zu Heil gerät. Eben das von ständigen Versuchungen und möglichem Scheitern durchwirkte menschliche Leben. Und allenthalben wabert Diktatur. Versteckt und offen. Im Kleinen wie im Großen.
Bibliographische Daten:
Edwin Kratschmer: Blaurausch. Erzählungen, UND-Verlag Stadtroda 2008, 264 Seiten, 24.90 EUR, ISBN 978-3-937437-31-9
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Buntes aus der Wissenschaft
Deutsch
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