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Politikwissenschaftler der TU Chemnitz erforschen die Situation der Roma in Ungarn und warnen vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen
Viele der 54 erfassten Angriffe auf Roma in Ungarn in den vergangenen eineinhalb Jahren sind nicht aufgeklärt. Nach der drastischen Häufung von Gewalt hilft die US-Bundespolizei FBI den ungarischen Behörden bei den Ermittlungen. "Erst wenn Vorurteile auf dem Weg des Miteinanders ausgeräumt werden, wenn alle Bevölkerungsgruppen an breiter Bildung partizipieren können, könnte der Teufelskreis durchbrochen werden. Sonst dürfte sich an der schlimmen gesellschaftlichen Situation der Roma in Ungarn und im restlichen Europa auch im 21. Jahrhundert nichts ändern", sagt Politikwissenschaftler Dr. Florian Hartleb von der Professur Europäische Regierungssysteme im Vergleich an der TU Chemnitz. Im Gegenteil: "Die Situation könnte eskalieren. In den vergangenen Monaten stieg die Gewalt gegen Roma weiter an. Manche Soziologen beschwören bereits bürgerkriegsähnliche Zustände herauf. Die demographische Entwicklung, die voranschreitende Erhöhung der Population der Roma, könnte dazu beitragen, aus der düsteren Prophezeiung Wirklichkeit werden zu lassen", schätzt Hartleb ein. Gemeinsam mit Melani Barlai, ebenfalls Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur Europäische Regierungssysteme im Vergleich, hat er die Situation der Roma in Ungarn erforscht.
Spätestens ab dem 16. Jahrhundert sahen so genannte Zigeuner Ungarn als ihre Heimat an. Ihre Herkunftsregion Nordindien verließen sie im Zuge von Krieg und Verfolgung zwischen dem 4. und 14. Jahrhundert. "Nicht zuletzt auf Grund ihrer musikalischen Fertigkeiten galten die Roma in Ungarn zeitweise als integriert - anders als in anderen Teilen Europas. Freilich wurden sie auf diese Rolle reduziert", berichtet Barlai und ergänzt: "Schon während der österreichisch-ungarischen Monarchie von 1867 bis 1918 wurden die Roma jedoch diskriminiert und zwangsweise umgesiedelt." Im Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Abneigung gegenüber den Roma weiter - bis hin zum Genozid. Seit 1993 sind sie als ethnische Minderheit in Ungarn gesetzlich anerkannt. Heute bilden die Roma hier die größte ethnische Minderheit mit einer Bevölkerungszahl von rund 700.000, was sieben Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht.
"Demokratieschutz bedeutet Minderheitenschutz, doch die Roma sind Außenseiter der ungarischen Gesellschaft und willkommenes Feindbild von Rechtsextremisten", schätzt Barlai ein. "Weil Ungarn durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung und das chronische Haushaltsdefizit innerhalb eines Jahrzehnts vom wirtschaftspolitischen Musterknaben zum Sorgenkind der Europäischen Union wurde und an den Rand des Staatsbankrotts geriet, eignen sich die Roma als Sündenböcke", so die aus Ungarn stammende TU-Absolventin weiter. Seit den 1990-er Jahren sei die Diskriminierung der ungarischen Roma aufgrund schlechter oder versäumter sozialpolitischer Maßnahmen auf allen Ebenen spürbar: sozial, kulturell, institutionell und politisch. "Die Transformationsforschung übersieht diese Problematik, da sie für Ungarn in der Regel äußerst positive Zahlen übermittelt und eine staatliche Konsolidierung diagnostiziert hat", sagt Barlai. Die Europäische Union habe sich seit 2008 ausführlich mit der Situation der Roma in Bulgarien, Tschechien, Griechenland, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei beschäftigt. "Doch Monitoring und Konferenzen wirken eher als zahnlose Tiger denn als effiziente Steuerungsinstrumente für die Implementierung von Minderheitenschutz. So mutet die Forderung, zur Förderung und Durchführung von Projekten müssten die Roma entsprechende Organisationsstrukturen bilden, inhaltsleer an, da sie die Heterogenität der Bevölkerungsgruppe nicht in Rechnung stellt", urteilt Barlai.
Die beiden Chemnitzer Politikwissenschaftler stellen nun ihre Forschung rund um die Roma in Ungarn in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte", herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, vor. Der Artikel ist auch online abrufbar: http://www.bpb.de/apuz
Weitere Informationen erteilen Melani Barlai, E-Mail melani.barlei@s2001.tu-chemnitz.de, und Dr. Florian Hartleb, Telefon 0371 531-35593, E-Mail florian.hartleb@phil.tu-chemnitz.de.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft, Politik
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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