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31.05.2001 12:21

Russland - Ein Land ohne Fragen?

Dipl.-Soz.Wiss. Birgit Geile-Hänßel Hochschulkommunikation
Fachhochschule Südwestfalen

    Erfahrungen vom 4. Internationalen Workshop der Märkischen Fachhochschule mit Studierenden aus sechs Ländern in Russland

    von Prof. Dr. Gunther Bamler

    Stalin ist tot - schon ziemlich lange. Der Kommunismus ist schon seit über zehn Jahren nicht mehr das vorherrschende System in Russland. Es ist auch nicht vorstellbar, dass die führenden Persönlichkeiten dieses Landes, ob sie nun Gorbatschov, Jelzin oder Putin heißen, etwas gegen Fragen einzuwenden hätten.

    Zum Hintergrund: Prof. Dr. Gunther Bamler vom Fachbereich Technische Betriebswirtschaft der Märkischen Fachhochschule (MFH) in Hagen veranstaltet seit Jahren mit seinen Studierenden und den Studierenden der Partnerhochschulen Kymenlaakso Polytechnic, Kouvola (Finnland), Institúto Politécnico Superior de Sétubal (Portugal), New York Insitute of Technology (USA), Staatliche Technische Universität Nowotscherkassk (Russland) und Foshan University (China) inter-nationale Workshops, in denen die Studierenden sich mit nationalen Unterschieden unternehmerischen Handelns und Verhaltens beschäftigen. Die Workshops finden jährlich jeweils in einem Partnerland statt. In diesem Jahr war die russische Partnerhochschule Gastgeber des vom 28. April bis zum 13. Mai 2001 stattfindenden Workshops. Damit Missverständnisse gar nicht erst aufkommen können, sei am Anfang klar gesagt, dass der 4. Internationale Workshop ein voller Erfolg war. Zufriedenheit war bei allen Teilnehmern rundherum festzustellen; diesbezüglich gab es keinen Grund zum Klagen, auch nicht für Fragen.

    Es muss aber spätestens jetzt richtig gestellt werden, dass die chinesischen Teilnehmer gar nicht dabei waren - obwohl nicht nur jeder einzelne und schon lange vorher feststehende Teilnehmer persönlich eingeladen war. Nicht nur das Geld stand bereit, nein die Flugtickets waren bereits ausgestellt und in Foshan bei der Partnerhochschule eingetroffen. Die Aushändigung der nicht leicht zu erlangenden Pässe schaffte man noch, aber an den russischen Visa scheiterte es dann doch.

    Gibt es schon erste Fragen? Nur mit der Ruhe, diese braucht man nicht nur in Russland, die scheinen auch die Russen reichlich zu haben. Aber bevor die ersten Fragen gestellt werden, sei auch klar herausgestellt, dass dieser Workshop in erster Linie deshalb so erfolgreich verlief, weil eben genau diese Russen - oder besser doch jeder einzelne Russe, mit dem man es zu tun bekam, wirklich sehr bemüht war, alles in seinen Möglichkeiten liegende auch zu bewerkstelligen, half wo er nur helfen konnte und somit auch tatsächlich viel bewirkte.

    Warum gibt es dann noch Fragen? Weil immer dann, wenn diese persönlichen Beziehungen nicht vorhanden waren oder nicht vorhanden sein konnten, alles - oder sagen wir besser vieles - zu klemmen schien. Es kann doch nicht sein, dass alles in diesem riesigen Land nur dann funktioniert, wenn persönliche Beziehungen aufgebaut worden sind. Das würde ja bedeuten, dass immer dann, wenn diese nicht vorhanden sind, auch nichts mehr funktioniert.

    Beziehungen mögen ja nützlich und wichtig sein; aber kann es denn angehen, dass man mit Polizisten, Zöllnern, Eisenbahnern, Fluglinien-Personal, Hotelangestellten, Busfahrern und vielen anderen erst einmal persönliche Beziehungen aufbauen muss, um etwas zu erreichen? Wir sind mitten im Thema.

    Fangen wir lieber wieder von vorne an und fragen uns, warum die chinesischen Teilnehmer des Workshops nicht dabei waren. Und wenn wir schon beim Fragen sind, so soll gleich der Versuch unternommen werden, das Geschehen auf diesem Workshop mit solchen Fragen zu verdeutlichen. Dieses "Warum" scheint ohnehin eine Frage zu sein, die als äußerst unanständig eingestuft wird. In Russland traut sich diese Frage nach dem "Warum" offenbar niemand zu stellen. Es könnten dadurch Personen getroffen werden, Missstände aufgedeckt werden, Fehler und Unzulänglichkeiten deutlich gemacht werden. Ob dies der Grund dafür ist, warum das "Warum" gemieden wird? Aber wer den Film "Forrester - gefunden" gesehen hat, weiß, dass solche Fragen gestellt werden müssen, will man etwas verändern oder verbessern.

    Also warum waren die Chinesen nicht dabei? Warum wurden die Einladungsschreiben durch die Partnerhochschule in Nowotscherkassk so spät erstellt? Warum wurden die ebenfalls vorliegenden Tourist Voucher des Reisebüros nicht akzeptiert? Warum war der russische Generalkonsul in Bonn, der über die Probleme unterrichtet war und helfen wollte, nicht in der Lage, seinen Kollegen in Peking direkt zu kontaktieren und ihn über die Dringlichkeit der Visaerteilung in Kenntnis zu setzen? Warum gingen die Meinungen darüber, ob das russische Generalkonsulat in Peking an dem entscheidenden Brückentag, dem 30. April, geschlossen sein würde, in Bonn, Nowotscherkassk und China so weit auseinander? Warum mussten die Einladungsschreiben im Original vorliegen und nicht als Fax, wie die Bescheinigungen auf den Generalkonsulaten in Bonn, New York, Lissabon oder Helsinki? Warum mussten die Einladungsschreiben der Hochschule vom Außenministerium gestempelt sein, nur weil der Tagungsort nicht im Bereich der Hochschule lag? Warum mussten die Passnummern der Chinesen auf diesen Einladungsschreiben stehen, obwohl die Pässe von den dortigen Behörden erst mit dem Visum ausgehändigt wurden? Warum weiß man das alles erst jetzt?

    Warum gab es bei den russischen Behörden keine Gruppenvisa mit entsprechenden amtlichen Teilnehmerlisten? Warum genügte es in China, wo der letzte internationale Workshop im Jahr 2000 stattfand, die Pässe der Teilnehmer mit diesen Listen zu vergleichen? Warum dauerte ohne derartige Listen die Einreiseprozedur in Rostov am Don nahezu drei Stunden? Warum wurden alle Pässe einzeln abgeschrieben, obwohl entsprechende Listen mit allen Passdaten vorgelegt wurden? Warum war nicht vorher bekannt, dass der Flug von Istanbul nach Rostov planmäßig zwei Stunden später abging, als uns mitgeteilt wurde, was dazu führte, dass der Besuch unserer Partnerhochschule in Nowotscherkassk und das vorgesehene Abendessen des Rektors auf ganze zehn Minuten beschränkt wurde?

    Warum musste der Bus schon 700 Meter vor dem Bahnhof in Rostov halten und konnte nicht direkt vor den Bahnhof fahren? Warum gab es in Rostov nur einen einzigen Gepäckträger, der offenbar auch noch in Gegnerschaft zur dortigen Eisenbahn stand, so dass er nicht auf den Bahnhof gelassen wurde? Warum schien es in ganz Russland keine Gepäckkarren zu geben? Warum keine Lifte und Rolltreppen für Koffer schleppende Reisende? Warum erfuhr man in Rostov nicht, wann welcher Zug abfuhr? Warum ist das in Istanbul so ganz anders? Warum wurde der Bahnsteig in Rostov in voller Breite neu gepflastert und nicht nur zur Hälfte? Warum mussten in Rostov alle Reisenden ihr gesamtes Gepäck über einen sandigen Baustellenbereich schleppen, auf dem man nicht einmal seine Koffer rollen kann? Warum hatte man den Eindruck, in Rostov auf dem Hauptbahnhof innerhalb einer halben Stunde so viel Koffer getragen zu haben, wie auf der ganzen 14-tägigen Südamerika-Exkursion der MFH im letzten Jahr nicht? Ja, wie so mancher Teilnehmer meinte, wie in seinem ganzen Leben nicht? Nein, eigentlich muss man sich fragen, warum keiner fragt? Wie viele Russen gibt es? Wie viele davon fahren mit der Bahn? Wie viele müssen davon unsinnigerweise über weite Strecken ihr Gepäck tragen? Wer kümmert sich in Rostov um die Belange der Reisenden? Niemand? Warum gibt es da keinen Service-Manager oder eine Person, die sich um die Qualität des Produktes "Bahnreise" kümmert? Gibt es einen solchen überhaupt in Russland? Wie viele Abgeordnete hat die Duma? Wie viele von diesen Abgeordneten haben je schon einmal eine solche Frage an den Eisenbahnminister in Russland gestellt? Wie viele Russen haben schon einmal ihren Abgeordneten gefragt, ob er eine solche Frage an seinen Eisenbahnminister gestellt hat?

    Jetzt muss schleunigst etwas anderes gefragt werden, sonst glaubt jeder, Russland wäre ein ganz schlimmes Land.

    Wie kommt es, dass man mit einer ganz schlechten Erwartungshaltung nach Sochi fuhr, was das Essen anbelangt? Wie kommt es, dass viele Workshop-Teilnehmer mit Müsliriegeln, ja sogar eigener Marmelade ausgerüstet anreisten? Wie kommt es, dass das Essen in diesem Pensionat nicht nur genießbar war, sondern oftmals auch noch recht schmackhaft war? Wie kommt es, dass man sich beim Anrichten der Speisen viel Mühe gab und auch die Petersiliengarnitur nicht vergaß? Wie kommt es, dass in Sochi drei Personen das Zimmer in Ordnung brachten, topsauber bis in die letzte Ecke und auch noch die Schuhe beiseite stellten und die Schnürsenkel zumachten? Wie kommt es, dass man im Restaurant sofort und extrem freundlich bedient wurde? Wie ist es möglich, dass man vorher die Preise für die Volleyballnutzung im 30-Minuten-Takt genannt bekam, dann aber doch nichts zu bezahlen hatte? Da waren offenbar wieder Menschen am Werk, die einen kannten, Russen versteht sich!

    Warum musste die Busfahrt unbedingt im Voraus und in bar bezahlt werden, obwohl durch das Fehlen der chinesischen Teilnehmer noch eine Rückzahlung anstand? Warum konnte diese Rückzahlung nicht mit der Busfahrt verrechnet werden? Warum sollte ausgerechnet ein Vertrag mit Siegel und Unterschrift erforderlich sein? Warum durfte man in dem Pensionate in Sochi, in dem die Teilnehmer hervorragend untergebracht waren, nur von 8.00 bis 9.00 Uhr und von 17.30 bis 18.30 Uhr das Hallenbad benutzen? Warum war aber wiederum stets ein Techniker zur Stelle, wenn es darum ging, das Mikrofon oder das Licht einzuschalten? Warum war überhaupt jeder bemüht, damit im Tagungsraum, in dem die Studierenden in multikultureller Besetzung ihr Unternehmensplanspiel durchführten, die ganz Woche über alles funktionierte?

    Sind das die Unterschiede zwischen Menschen mit Beziehungen und dem System, an dem man nichts ändern könne, wie man immer wieder zu hören bekam? Wird dieses System nicht auch von Menschen gesteuert - allerdings ohne Beziehungen?

    Warum standen am 9. Mai, dem Tag, an dem die Russen den Sieg über das Nazi-Deutschland feiern, Hunderte von Menschen auf der Brücke über der Moskwa und warteten auf die große Militärparade? Warum glaubte selbst die Kellnerin in Hotel Rossija, direkt am Roten Platz gelegen, dass draußen gleich die große Militärparade stattfinden würde, wie in alten Zeiten? Warum kam angeblich sogar im Fernsehen die Nachricht von der Parade um 10.00 Uhr, wenn diese gar nicht stattfand? Warum nannten die Russen das bescheidene Zeremoniell, das auf dem Roten Platz stattfand, "Militärparade", obwohl nur eine Handvoll Soldaten aufmarschierte und das ganze in 30 Minuten vorüber war? Warum wurde zu diesem Zweck die gesamte Moskauer Innenstadt bis 13.00 Uhr und selbst danach noch gesperrt, einschließlich Kreml, Kaufhaus Gum, Manegenplatz und Tverskaja, obwohl auf den Roten Platz nach 10.30 Uhr gar nichts mehr los war? Warum wurden alle, ja Hunderte abgewiesen, der gesamte Verkehr weiträumig umgeleitet - aber wenn man einen einzigen Polizisten ansprach und fragte, durchgelassen? Ja warum feierte man überhaupt so einen Tag unter Ausschluss der Öffentlichkeit?

    Warum besorgte einem die Dame in der Halle ein Taxi, obwohl die ganze Gegend ja abgesperrt war? Warum kam dann der Taxifahrer von wer weiß wo her zu Fuß zum Hotel gelaufen? Warum ging er einfach davon aus, dass sein Fahrgast dann auch noch den Koffer (42 kg) womöglich noch bis auf die andere Seite der Moskwa tragen würde? Warum genügte es, einen diensthabenden Polizisten vor dem Hotel zu fragen, damit dann das Taxi doch noch vorfahren durfte? Woher wusste der Fahrgast so genau, dass sein Koffer und seine Aktentasche 42 kg wiegen würden? Warum verzichtete die Dame auf dem Flughafen nicht auf die 63 US-Dollar Nachzahlung für eben diese 42 kg? Warum verlangte selbst das Hotel noch über 900 Rubel ( über 50 Mark) dafür, dass man die Koffer bis abends am Empfang stehen lassen durfte? Warum kassierte der Taxifahrer nicht noch Geld nach, da er aufgrund der umfangreichen Absperrungen einen wahrlich großen Umweg in Kauf nehmen musste und dem Fahrgast damit völlig neue, ihm vorher unbekannte Teile Moskaus erschloss?

    Warum musste man in Russland die Erfahrung machen, dass die Umstände, das ganze "System", die Vorschriften, alles andere als sympathisch sind, dass aber die Russen - und zwar jede einzelne von ihnen - das alles wieder wett zu machen verstehen und so den gesamten Aufenthalt zu einem positiven unvergesslichen Erlebnis werden ließen?

    Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an Prof. Dr. Gunther Bamler, Tel.: 02331/987-2392/-2182. E-Mail: bamler@mfh-iserlohn.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Wirtschaft
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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