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Wissenschaft
Die Alzheimer-Krankheit, ein unaufhaltsam bis zum Tod fortschreitender Gedächtnisverlust, geht auf Störungen eben jener Vorgänge zurück, denen das menschliche Gehirn seine lebenslange Lernfähigkeit verdankt: Mit dieser neuen Hypothese fasst der Leipziger Hirnforscher Thomas Arendt auf einem Presse-Seminar am 9. Juni in Göttingen eine Fülle klinischer und experimenteller Erkenntnisse schlüssig zusammen. Seine Arbeit verdeutlicht überdies, warum eine wirksame Behandlung der Alzheimer-Krankheit besonders schwierig sein dürfte.
Nicht nur das Leben, auch das Gehirn ist eine Baustelle. Erst die höchst entwickelte Fähigkeit unseres zentralen Nervensystems, sich selbst ein Leben lang umzubauen und somit flexibel auf neue Situationen zu reagieren, macht höhere Hirnfunktionen wie Lernen, Erinnern und Bewusstsein möglich.
Das ist die glänzende Seite der Medaille.
Die andere, düsterere: Eben diese Fähigkeit birgt auch den Schlüssel zu jener schleichenden Zerstörung von Nervenzell-Verbänden, die den Alzheimer-Kranken bislang unaufhaltsam erst das Gedächtnis und schließlich das Leben raubt.
"Die Alzheimer-Krankheit", folgert Professor Dr. Thomas Arendt vom Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig aus der Fülle heute vorliegender klinischer und experimenteller Erkenntnisse, "ist eine Störung jener Mechanismen, die der strukturellen Selbstorganisation des Gehirns zugrundeliegen." Mit dieser Hypothese, die Arendt kürzlich in der Zeitschrift "Neuroscience" veröffentlichte, erweitert und vertieft er bisherige Vorstellungen über die Ursachen der Krankheit, an der allein in Deutschland rund 800.000 Menschen leiden.
Seit der bayerische Nervenarzt Alois Alzheimer im Jahr 1901 den ersten Fall dieser "eigenartigen Nervenkrankheit" beschrieb, haben Ärzte und Wissenschaftler eine Fülle zunehmend feinerer Details über das zerstörerische neurodegenerative Leiden herausgefunden:
o Mit bloßem Auge erkennen Pathologen die deutlich geringere Masse und die tiefen Furchen der Gehirne verstorbener Alzheimer-Patienten.
o Das Mikroskop macht im betroffenen Hirngewebe zwei Arten typischer Eiweiß-Ablagerungen sichtbar, so genannte Amyloid-Plaques sowie zu Knäueln verklumpte Tau-Fibrillen.
o Noch feinere Untersuchungsmethoden enthüllen einen massiven Verlust an so genannten Synapsen, den Schaltstellen für die Kommunikation zwischen Nervenzellen (Neuronen); dieser Verlust gilt als die wichtigste strukturelle Veränderung der Nervenzellen während des geistigen Abbaus der Kranken.
l Auf molekularer Ebene finden Forscher eine wachsende Zahl von Substanzen, deren Stoffwechsel-Aktivität im Hirngewebe von Alzheimer-Kranken sich deutlich von ihrer Aktivität im gesunden Gehirn unterscheidet. Dabei handelt es sich vor allem um so genannte morphoregulatorische Moleküle: Stoffe, welche die wandelbare - "plastische" - Gestalt (Morphologie) des betroffenen Nervengewebes regeln.
o Auf genetischer Ebene registrieren Wissenschaftler Faktoren, die den Verlauf der Krankheit beeinflussen. So verursachen angeborene Mutationen bei bisher drei bekannten Genen einen besonders frühen Ausbruch des Leidens zwischen dem 30. und 55. Lebensjahr; davon betroffen sind etwa ein Prozent der Alzheimer-Patienten. Zunächst weniger auffällig verlaufen veränderte genetische Steuerungsprozesse, die jedoch offensichtlich bei allen Kranken Unheil anrichten: Dabei werden genetische Programme wieder angeschaltet, die eigentlich nur während des frühkindlichen Hirnwachstums wirksam sein sollten - mit der Folge, dass der Stoffwechsel der Nervenzellen sowie deren Kommunikation untereinander aus dem Ruder läuft, bis die betroffenen Neuronen degenerieren und absterben.
In dieser Vielzahl höchst komplexer Stoffwechselvorgänge suchen Forscher seit langem nach der eigentlichen Ursache der Alzheimer-Krankheit. Dabei treibt sie die Hoffnung, mit der Ursache auch eine wirksame Behandlung zu finden und damit die Nervenzellen-Degeneration zu stoppen. Allerdings blieb diese Suche bislang erfolglos: Alle beobachteten äußeren Einflüsse und internen Veränderungen erwiesen sich als sekundäre Phänomene - als begleitende Faktoren und Symptome des rätselhaften Krankheitsgeschehens.
Hartnäckig hielt sich immerhin der Verdacht, dass eine abweichende neuronale Plastizität - zum Beispiel das anormale Sprossen von Synapsen oder die fehlerhafte Regeneration geschädigter Nervenzellen - ursächlich an der Entstehung der Alzheimer-Krankheit beteiligt ist.
Der Preis für Freiheit, Kreativität und Intelligenz
Hier nimmt nun Thomas Arendt die Fäden auf. "Es geht dabei nicht nur um das Unvermögen des Gehirns, auf irgendwelche altersbedingten oder sonstigen unspezifischen Störungen zu reagieren", formuliert er den Kernsatz seiner neuen Hypothese. "Bei der Alzheimer-Krankheit ist vielmehr die Fähigkeit des Gehirns selbst gestört, seine eigene strukturelle Organisation und Arbeitsweise zu verändern, wenn funktionelle Anforderungen solche angepassten Reaktionen verlangen."
Arendt packt damit die Fülle der vorliegenden klinischen Beobachtungen an Patienten und der (tier-)
experimentellen Erkenntnisse in einen aktuellen neurowissenschaftlichen Rahmen: Dieses neue Bild des menschlichen Gehirns zeigt ein höchst flexibles, zur Selbstorganisation fähiges Organ, das seine strukturelle Funktion - gestützt auf genetischer und epigenetischer (aus der Umwelt kommenden) Information - ein Leben lang "erschafft" und "neu erschafft". Dabei kombiniert das Gehirn sowohl vorübergehende als auch dauerhafte Verbindungen. So entsteht ein ungeheuer flexibles und zugleich hinreichend stabiles System aus rund 100 Milliarden Nervenzellen. In ihm können sich vor allem bestimmte Regionen - vorzugsweise in der Großhirnrinde sowie in einem für Lernvorgänge unentbehrlichen, Hippocampus genannten Areal - je nach Bedarf über Myriaden von Synapsen zu "neuronalen Verbänden" zusammenschließen und bestehende Verbindungen wieder auflösen, wenn sich deren Funktion überholt hat. Erst diese permanente, sich selbst organisierende "Baustelle" ermöglicht jene geistigen Leistungen, die den Mensch zum Menschen machen - Intelligenz, Kreativität, Bewusstsein.
Die neuronale Freiheit der höheren Hirnfunktionen basiert jedoch auf einer, wie Arendt betont, "delikaten Balance": Weil die beteiligten plastisch reagierenden Nervenzellen auch im Erwachsenenalter ihre Flexibilität behalten, sind sie für Störungen anfälliger als jene Neuronen, die nach Abschluß der kindlichen Hirnentwicklung von ihren Genen sozusagen an die kurze Leine gelegt werden und danach nur noch spezielle, eng umrissene Aufgaben erledigen. Und diese Anfälligkeit könnte die Weichen in Richtung Alzheimer stellen.
Die Hypothese der gestörten Selbstorganisation auf dem Prüfstand
Seine Hypothese, die Alzheimer-Krankheit gehe auf eine Störung der strukturellen Selbstorganisation des Gehirns zurück, lässt sich laut Arendt durch folgende sechs Voraussagen überprüfen:
1. Die Alzheimer-Krankheit ist eine synaptische Störung.
2. Sie geht einher mit anormalem synaptischem Sprossen sowohl auf den vorgeschalteten ("präsynaptischen") wie auch nachgeschalteten ("postsynaptischen") Nervenverbindungen.
3. Die räumliche und zeitliche Verteilung der Alzheimer-Krankheitszeichen folgt dem Muster der "strukturellen Neuroplastizität" im Erwachsenenalter, einem genetisch gesteuerten Entwicklungsvorgang.
4. Bei der Krankheit spielen "morphoregulatorische Moleküle" eine herausragende Rolle - Botenstoffe, die Veränderungen an den synaptischen Verbindungen regulieren.
5. Lebensereignisse, welche die Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern, zusätzlich belasten oder von ihm ein besonders hohes Anpassungsvermögen beanspruchen, könnten einen früheren Ausbruch der Krankheit auslösen oder ein schnelleres Fortschreiten des Leidens fördern: Sie könnten das Alzheimer-Risiko erhöhen, indem sie bestimmen, wann - aber nicht ob - jemand erkrankt.
6. Bei der Alzheimer-Krankheit kommt es zu einer Reaktivierung genetisch gesteuerter Entwicklungsprogramme, die ausgereifte Nervenzellen stören und zu deren Tod führen.
Rückentwicklung von Neuronen
Die Voraussagen eins bis drei sowie fünf haben sich, so Arendt, als richtig erwiesen. Und auch für die Punkte vier und sechs spricht eine Fülle neuerer Forschungsergebnisse. Als besonders faszinierend erweist sich dabei das "Rückfallen" ausgereifter Nervenzellen in kindliche Wachstumsmuster, die Thomas Arendt und seine Mitarbeiter erstmals nachgewiesen haben. Diese genetisch kontrollierte Entdifferenzierung bringt die betroffenen Neuronen in einen unlösbaren Konflikt mit dem "erwachsenen" Umfeld des Nervensystems - und daran gehen sie zugrunde. "Die Kontrolle des Zell-Zyklus und der Differenzierung", argumentiert Arendt, "könnte deshalb das Bindeglied zwischen der strukturellen Selbstorganisation des Gehirns und der Neurodegeneration sein: Beide haben im menschlichen Gehirn einen evolutionären Entwicklungsstand erreicht, der einmalig in der Natur ist."
Eben diese enge Verquickung von Freiheit und Untergang - die beiden Seiten der neuronalen Medaille - dämpfen freilich alle Hoffnungen auf eine baldige grundlegende Behandlung der Alzheimer-Krankheit. "Auf der Basis dieser Hypothese", so Thomas Arendt, "lässt sich vorhersagen, dass therapeutische Eingriffe in diese Krankheitsmechanismen eine besonders große Herausforderung sind, denn sie greifen potentiell auch in jene Mechanismen ein, die zugleich die Basis für die ,höheren Hirnfunktionen' bilden."
Gleichwohl haben sich Arendt und sein Team auch auf diesen steinigen Weg begeben. Sie haben auf Neuronen in der Zellkultur ein "P16" genanntes Gen übertragen, das den Zellzyklus stoppt. Derart blockiert können die Neurone von keinem Signal mehr zu Teilung angeregt werden.
Und in den Leipziger Labors wachsen gerade so genannte transgene Mäuse heran. Bei diesen Tieren wollen die Forscher, sobald sie erwachsen sind, über einen "Genschalter" gezielt die Aktivität des "P16-Gens" im Gehirn anschalten, um zu prüfen, ob dieser Eingriff die Neuronen vor dem Untergang bewahren kann.
Prof. Dr. Thomas Arendt
Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung, Abt.: Neuroanatomie, Universität Leipzig,,
Jahnallee 59, 04109 Leipzig;
Tel.: 0341-972 57 21; Fax: 0341-221 43 97
aret@medizin.uni-leipzig.de
Medienkontakt
ProScientia GmbH; Dipl. Biol. Barbara Ritzert
Andechser Weg 17, 82343 Pöcking; Tel. 08157/9397-0; Fax: 08157/9397-97; e-mail: ritzert@proscientia.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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