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In den 20 Jahren seit der Herstellung der deutschen Einheit ist es den Gewerkschaften gelungen, in Ostdeutschland ein dichtes Netz von Tarifverträgen zu knüpfen, das in seiner Struktur dem westdeutschen Vorbild gleicht. Auch inhaltlich ist die Angleichung der tariflichen Standards in vielen Bereichen weit vorangekommen. Doch von flächendeckend gleichen tariflichen Einkommens- und Arbeitsbedingungen in West und Ost kann auch nach zwanzig Jahren noch keine Rede sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine Schwerpunktanalyse im neuen WSI-Tarifhandbuch 2010, die die tarifpolitische Entwicklung in Ostdeutschland bilanziert. Das Tarifhandbuch kommt in diesen Tagen auf den Markt.
Zwanzig Jahre nach der deutschen Vereinigung weist die Bilanz der Tarifpolitik also Licht und Schatten auf. "Das ist weniger ein Ausdruck gewerkschaftlicher Schwäche als vielmehr eine Folge der ökonomischen Verhältnisse", sagt der Tarifexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, Dr. Reinhard Bispinck. "Der nach dem industriellen Zusammenbruch zunächst dynamische Aufholprozess ist rasch zum faktischen Stillstand gekommen und die Tarifpolitik hat sich von der zähen wirtschaftlichen Entwicklung nicht abkoppeln können."
Ein Blick auf die Entwicklung der wichtigsten Tarifregelungen und -leistungen zeigt:
Das Tarifniveau Ost/West, also das Verhältnis der tariflichen Grundvergütungen, betrug 1991 rund 60 Prozent und Ende 2009 96 Prozent (siehe Abbildung 2 in der pdf-Version dieser PM; Link unten)
Die tarifliche Wochenarbeitszeit lag im Osten 1991 mit 40,2 gut 2 Stunden höher als im Westen mit 38,1 Stunden. Ende 2009 belief sich die Wochenarbeitszeit auf 38,8 Stunden im Osten und 37,4 Stunden im Westen.
Der tarifliche Grundurlaub beträgt zurzeit im Osten 26,8 Arbeitstage (West: 28,1), der Endurlaub, also die maximal erreichbare Zahl von Urlaubstagen, erreicht 29,5 Arbeitstage (West: 30,1).
Das tarifliche Urlaubsgeld, festgelegt als Prozentsatz des Monats- bzw. Urlaubsentgeltes, hat in vielen Tarifbereichen Westniveau erreicht. Da, wo es als fester Euro-Betrag vereinbart ist, ist es teilweise noch deutlich niedriger.
Die tarifliche Jahressonderzahlung (Weihnachtsgeld) hat in einigen Bereichen ebenfalls Westniveau erreicht, aber auch in größeren Branchen (Metall, Chemie, Einzelhandel, öffentlicher Dienst) bestehen noch Unterschiede.
Dass sich der erreichte tarifliche Angleichungsstand in der Realität nicht 1:1 niederschlägt, hängt nach Analyse des WSI-Tarifexperten Reinhard Bispinck damit zusammen, dass die Prägekraft der Tarifverträge in Ostdeutschland zu schwach ist und im Laufe der Jahre noch abgenommen hat.
"Das ist eine Folge der deutlich geringeren Tarifbindung, aber in Ostdeutschland fehlt auch die im Westen über Jahrzehnte gewachsene Tarifkultur" so der Experte. "Es ist eben im Osten nicht selbstverständlich, dass zu geordneten Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen die tarifliche Regulierung der Einkommens- und Arbeitsbeziehungen gehört." Die große Kluft zwischen höheren tariflichen und niedrigeren effektiven Standards von Löhnen, Gehältern und Arbeitszeiten untergräbt die Verbindlichkeit der Tarifnormen. Weniger Bindekraft, mehr unverbindliche Orientierungsfunktion - so lässt sich der Funktionswandel der Tarifverträge in den neuen Ländern umschreiben.
Die weitere Angleichung der ostdeutschen tariflichen Arbeits- und Einkommensbedingungen an das West-Niveau und ihre praktische Umsetzung setzen nach Auffassung des WSI zwingend eine Revitalisierung des Tarifvertrages und des gesamten Tarifsystems voraus. Nur wenn es gelingt, die formale Tarifbindung zu erweitern und die inhaltliche Verbindlichkeit von Tarifnormen zu verbessern, besteht eine echte Chance, die noch bestehende Tarifkluft zwischen Ost und West zu verringern.
"Das ist zweifellos eine Aufgabe, der sich die Gewerkschaften in erster Linie selbst stellen müssen", sagt Bispinck. "Aber es bleibt auch eine Herausforderung an die Politik." Zum einen würde ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn helfen, das Einkommensniveau am unteren Rand zu stabilisieren und Spielraum für darauf aufbauende Tarifpolitik zu schaffen. Zum anderen kann die Politik die Reichweite der Tarifverträge selbst verbessern, zum Beispiel durch branchenspezifische Mindestlöhne auf Basis des Entsendegesetzes, durch ein erleichtertes Verfahren zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen oder auch durch die Einführung von Tariftreuegesetzen bei öffentlichen Aufträgen. Solche Maßnahmen hätten bundesweit positive Auswirkungen, so der Wissenschaftler, in Ostdeutschland wären sie aber von besonderer Dringlichkeit.
Das WSI-Tarifhandbuch 2010 informiert darüber hinaus umfassend und aktuell über das Tarifgeschehen in West und Ost, die neueste Tarifrechtsprechung sowie die wichtigsten aktuellen Tarifbestimmungen in 50 Wirtschaftszweigen und Tarifbereichen.
http://www.boeckler.de/pdf/pm_ta_2010_04_22.pdf - PM mit Grafiken und Ansprechpartnern
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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