idw - Informationsdienst
Wissenschaft
Evolutionsbiologen der Universität Jena weisen mit internationalem Autorenteam die komplexe Entstehungsgeschichte tierischer Muskeln nach
In der freien Natur ist der, der sich bewegen kann, klar im Vorteil: Er kann vor Gefahren fliehen, Beute machen, große Distanzen überwinden und damit neue Lebensräume erobern. Nahezu alle Tiere bewegen sich mit Hilfe ihrer Muskulatur. Es gibt aber auch Ausnahmen: „Die Schwämme z. B., eine in der Evolution sehr früh entstandene Tiergruppe, besitzen gar keine Muskulatur und bewegen sich trotzdem“, sagt PD Dr. Michael Nickel von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. An ihnen lassen sich daher die frühen Ursprünge der tierischen Muskulatur aufspüren – ein bisher wenig verstandener Aspekt in der Evolution, so der Evolutionsbiologe. „Während Struktur und Funktion der Muskulatur insbesondere bei Wirbeltieren sehr gut untersucht sind, ist der evolutionäre Ursprung von glatter und gestreifter Muskulatur bislang weitgehend im Dunkeln geblieben.“
In einem internationalen Forscherteam, koordiniert von dem Wiener Biologen Prof. Dr. Ulrich Technau, haben Dr. Nickel und sein Mitarbeiter Dr. Jörg Hammel vom Jenaer Institut für Spezielle Zoologie und Evolutionsbiologie nun Licht in dieses Dunkel bringen können. Wie die Wissenschaftler in der heute (27. Juni) online veröffentlichten Ausgabe des renommierten Journal „Nature“ zeigen, sind zentrale Bestandteile von Muskeln höherer Tiere viel älter als bisher angenommen (DOI: 10.1038/nature11180). Die Spezialisierung der grundlegenden Muskelzelltypen erfolgte dagegen erst viel später und mehrfach unabhängig voneinander.
Den Grundstein für die neuen Erkenntnisse lieferten vergleichende Genom- und Genexpressionsstudien. Damit konnte das Forscherteam die Evolution von Muskelbestandteilen in ursprünglichen Tieren wie Seeanemonen, Quallen und Schwämmen nachzeichnen. Demnach ist eines der wichtigsten Struktur-Eiweiße der gestreiften Muskulatur von Wirbeltieren, ein sogenanntes Motorprotein, durch eine Genverdopplung entstanden. Da eine spezifische Strukturvariante dieses Proteins bisher ausschließlich in Muskelzellen gefunden wurde, waren die Forscher davon ausgegangen, dass sein Ursprung mit der Entstehung von Muskeln zusammenfällt. Wie sich nun zeigt, ist es vermutlich bereits in Einzellern entstanden, also bereits lange bevor die ersten Tiere gelebt haben.
Schlüsselergebnisse dazu trugen die Jenaer Zoologen und Evolutionsbiologen in Zusammenarbeit mit Kollegen der Universität München und Queensland bei. „Auch die muskellosen Schwämme besitzen dieses Motorprotein. Jedoch spielt es in der Körperkontraktion von Schwämmen scheinbar keine Rolle“, erläutert Michael Nickel. „Das Gen ist im voll entwickelten Schwamm ausschließlich in einem auffälligen Zelltyp des Wasserkanalsystems aktiv“, präzisiert der Forscher der Uni Jena. Dieses Kanalsystem dient den Schwämmen zum Nahrungserwerb, durch das sie das Umgebungswasser filtern. „Der betreffende Zelltyp spielt durch lokale Kontraktionen eine Rolle in der Regulation der Wasserströmung.“ Das Protein in den Schwämmen unterscheide sich damit im funktionellen Einsatz deutlich von dem der übrigen Tiere.
Auch in den Nesseltieren, einer weiteren sehr früh entstandenen Tiergruppe, zu der u. a. die Quallen gehören, kommt das urtümliche Struktur-Protein vor. „Anders als die Schwämme besitzen Nesseltiere bereits richtige Muskelzellen“, weiß Dr. Nickel. „Da sie in ihrer mikroskopischen Struktur der gestreiften Muskulatur von Wirbeltieren und Insekten ähneln, ging man bislang davon aus, dass sie einen gemeinsamen Ursprung haben müssten.“ Tatsächlich aber fehlen ihnen essentielle Komponenten, die charakteristisch für die gestreifte Muskulatur in höherentwickelten Tieren sind. „Dies lässt den Schluss zu, dass trotz der großen äußeren Ähnlichkeiten die gestreiften Muskeln von Nesseltieren und höheren Tieren unabhängig voneinander entstanden sind“, so das Fazit der Forscher.
Original-Publikation:
Steinmetz P. R. H. et al. Independent evolution of striated muscles in cnidarians and bilaterians, Nature (2012), DOI: 10.1038/nature11180
Kontakt:
PD Dr. Michael Nickel
Institut für Spezielle Zoologie und Evolutionsbiologie mit Phyletischem Museum der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Erbertstr. 1, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 949174
E-Mail: m.nickel[at]uni-jena.de
http://www.porifera.net
http://www.uni-jena.de
Evolutionsbiologe PD Dr. Michael Nickel von der Universität Jena.
Foto: Jan-Peter Kasper/FSU
None
Siebartiger Schwammzell-Typ in vollständig "geöffnetem" Zustand. Diese Zellen enthalten das "Muskel" ...
Foto: Michael Nickel/FSU
None
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).