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In zwei Buchveröffentlichungen erklären Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS), welche Prozesse dazu führen, dass Regionen, Städte oder Stadtteile zur Peripherie werden. Dahinter steckt die Grundannahme, dass Peripherie deutlich mehr ist als nur eine Randlage. Vielmehr führt ein komplexes Zusammenspiel von Abstiegsprozessen dazu, dass Orte eingeschränkte Handlungsspielräume besitzen. „Versteht man diesen Prozess, kann man auch über Auswege nachdenken“, sagen Dr. Matthias Bernt und Dr. Matthias Naumann.
„Jott-We-De“ sagt der Berliner gerne, wenn er leicht abfällig von peripheren ländlichen Räumen spricht. „Janz weit draußen“ meint aber nicht unbedingt nur eine Lage weit entfernt vom Zentrum, sondern impliziert auch eine schlechte Anbindung und materielle Ausstattung. Die Peripherie ist ein politischer Problemraum, in dem wirtschaftlicher Niedergang, Abwanderung, Finanzprobleme und schlechtes Image zusammenkommen und zu einer lähmenden Perspektivlosigkeit führen. „Diese komplexen Problemlagen allein durch statische Parameter wie der Entfernung zum Zentrum zu erklären, greift deutlich zu kurz“, erklärt Bernt. Im IRS wurde daher der Begriff der „Peripherisierung“ geprägt, der eine dynamische, prozesshafte Ergänzung zum Begriff der Peripherie darstellt. Damit waren die Wissenschaftler in der Lage, die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie in ihrer Entwicklung nachzuvollziehen und sie in globale wirtschaftliche Restrukturierungsprozesse wie der Globalisierung und dem demographischen Wandel einzuordnen. „Wir konnten feststellen, dass Peripherien kommen und gehen, dass sie nicht nur im ländlichen Raum, sondern auch innerhalb von Städten auftreten und welche Prozesse dabei relevant sind“, so Bernt. „Bei der Entwicklung sind mehrere ökonomische, soziale, kulturelle und politische Prozesse verbunden: Abkopplung, Abwanderung, Stigmatisierung und Abhängigkeit.“
Abwanderung als Abstimmung mit den Füßen ist dabei eine Art Generalindikator für die Probleme dieser Räume. Gleichzeitig wirkt der Wegzug, zumeist von qualifizierten jungen Menschen, selbst verstärkend auf den Abstieg. Dazu kommt die Abkopplung, die nicht nur die Verkehrsinfrastruktur betrifft, sondern auch soziale Einrichtungen. „Wir konnten auch eine ökonomische Abkopplung identifizieren, weil die Wirtschaft in der Peripherie nicht mehr angeschlossen ist an Innovationen in der Wertschöpfungskette“, so Bernt. Daraus ergibt sich eine starke Abhängigkeit von externen Entscheidungen, in diesem Fall von Unternehmen. Aber auch politisch ist die Abhängigkeit das zentrale Problem, dass durch Peripherisierungsprozesse entsteht. „Die Spielräume von Lokalpolitikern sind extrem eingeschränkt durch den Mangel an eigenen Ressourcen, beispielsweise kommunale Finanzmittel“, konstatiert Bernt. „Ihnen bleibt oft nur ein Management dieser Abhängigkeitsbeziehungen, strategisches Arbeiten wird erschwert.“ Er sieht daher die „Verbewettbewerblichung“ kommunaler Finanzierungssystem kritisch. „Wir halten eine Politik, die lokale Handlungsfähigkeit stärkt, indem sie die Basisfinanzierung von Kommunen verbessert, für den zentralen Strategieansatz im Umgang mit diesen Problemen. Das bedeutet nicht einfach mehr Geld, sondern auch eine Abkehr von kurzfristigen, projekt- und wettbewerbsorientierten Fördersystemen.“
Die Forschungsabteilung “Regenerierung von Städten“ des IRS hat in dem gemeinsam mit dem Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) in Dortmund erarbeiteten Buch „Peripherisierung, Stigmatisierung, Abhängigkeit?“ eine Reihe deutscher Mittelstädte detailliert untersucht und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet. „Da wir sehen, wie Peripherien gemacht werden, können wir auch Wege aufzeigen, wie sie die die Abstiegsprozesse umgehen verlangsamen oder gar stoppen können“, so Bernt.
Dass dies nicht ein rein deutsches oder europäisches Phänomen ist, zeigt das Buch „Peripheralization. The Making of Spatial Dependencies and Social Injustice“ von Naumann und Andrea Fischer-Tahir (Zentrum Moderner Orient Berlin). In mehreren Fallstudien in Deutschland, Ungarn, Rumänien, der Türkei, Irakisch-Kurdistan, Pakistan, Indien und Brasilien suchten die Autoren nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei Peripherisierungen in verschiedenen Teilen der Welt. „Wir konnten überall Abstiegsprozesse feststellen, ob in der ostdeutschen Provinz oder in Brasiliens Großstädten. Durch die unterschiedlichen Kontexte laufen die Prozesse allerdings im Detail immer wieder anders ab.“ Deutsche Rezepte funktionieren daher angewandt auf andere Länder nicht, der Blick auf andere Kontinente führt aber wirkungsvoll vor Augen, wie bedeutsam globale wirtschaftliche Entwicklungsprozesse für das Wohl oder Übel der Peripherien sind. So zeigt ein Beitrag aus dem Band den Niedergang rumänischer Kleinstädte aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels. „Fragen von Zentrum und Peripherie sind daher Fragen von ungleicher Verteilung von Ressourcen im Raum, also von sozialer Ungleichheit. Daher müssen Peripherisierungen wieder stärker in den Fokus der Politik rücken, um vor allem die Abhängigkeiten und damit die Handlungsunfähigkeit der Peripherien zu verringern – in Deutschland und überall auf der Welt“, schließt Naumann.
- Bernt, Matthias; Liebmann, Heike (Hrsg.): Peripherisierung, Stigmatisierung, Abhängigkeit? Deutsche Mittelstädte und ihr Umgang mit Peripherisierungsprozessen. Heidelberg u.a.: Springer VS, 2013, 234 Seiten, ISBN 978-3-531-18596-5
-Fischer-Tahir, Andrea; Naumann, Matthias (Hrsg.): Peripheralization. The Making of Spatial Dependencies and Social Injustice. Heidelberg u.a.: Springer VS, 2012, 320 Seiten, ISBN 978-3-531-18332-9
http://www.irs-net.de/publikationen/irs-aktuell/index.php?id=38 - Schwerpunktheft IRS aktuell 71 „Peripherisierung – Zentrum und Peripherie neu denken“ mit den Themen: Zentrum und Peripherie – der Forschungsansatz der Peripherisierung, Stadtpolitik und Peripherisierung, Innere Peripherien in der Metropole Berlin, Zentrum und Peripherie im Stadtumbau: innerstädtische Altbaugebiete und randstädtische Wohnsiedlungen, Zentrum und Peripherien in der DDR
Verwandte Prozesse in verschiedenen räumlichen Kontexten: Ländliche Siedlungen in Europa können eben ...
Quelle: Fotos: IRS (Ländlicher Raum), Hmaglione10/Wikimedia Commons (Favela)
Verwandte Prozesse in verschiedenen räumlichen Kontexten: Ländliche Siedlungen in Europa können eben ...
Quelle: Fotos: IRS (Ländlicher Raum), Hmaglione10/Wikimedia Commons (Favela)
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Gesellschaft, Politik, Verkehr / Transport
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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