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10.09.2002 14:13

Dilemma später Schwangerschaftsabbruch:

Dipl. Biol. Barbara Ritzert Pressearbeit
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

    Eine Neuorientierung von Ärzteschaft, Gesellschaft und Politik bei vorgeburtlicher Diagnostik und Schwangerschaftsabbruch will die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe anstoßen. Auf dem 54.
    Kongress der Gesellschaft präsentiert eine Arbeitsgruppe den Entwurf eines Diskussionspapieres, das den öffentlichen Diskurs initiieren soll.

    "Wissen Sie, was das für ein Gefühl ist?" Professor Klaus Diedrich, Direktor der Lübecker Universitätsfrauenklinik, bedrückt ein Dilemma der modernen Geburtsmedizin. "In einem Kreissaal kämpfen Ärzte und Pflegepersonal verzweifelt um das Leben eines Winzlings, der viel zu früh geboren wurde. Und im Kreissaal nebenan wird ein Kind im Mutterleib erst getötet und danach abgetrieben, das genau so weit entwickelt ist, das aber eine schwere Krankheit hat."
    Diedrich und seine Kollegen sind nicht zu beneiden. Schätzungsweise 177 Mal pro Jahr - genaue Zahlen gibt es nicht - müssen Gynäkologinnen und Gynäkologen einen so genannten späten Schwangerschaftsabbruch vornehmen. "Spät": das heißt nach der 22. Schwangerschaftswoche - und theoretisch sogar bis kurz vor der Geburt, also dann, wenn das Ungeborene bereits außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre.
    Schon lange schwelt in der Ärzteschaft - vor allem bei den Gynäkologen - eine wachsendes Unbehagen über unerwünschte Folgen der Reform des Paragrafen 218. Und daran hat die moderne Pränataldiagnostik einen entscheidenden Anteil. Einerseits fungiert sie als Lebensschutz: Sie nimmt den Eltern Sorgen, verhindert Abbrüche "auf Verdacht" und hilft im Falle eines Falles, eine Therapie vor oder gleich nach der Geburt vorzubereiten. Andererseits sehen sich die Ärzte zunehmend mit einem vermeintlichen "Rechtsanspruch" auf ein gesundes Kind konfrontiert, zu dessen Verwirklichung auch ein Schwangerschaftsabbruch in Kauf genommen wird. Aus diesem Anlass legt eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe nun den Entwurf eines Diskussionspapiers vor. Ziel der auf dem 54. Kongress der Gesellschaft in Düsseldorf vorgestellten Arbeit ist es, Öffentlichkeit und Politik zu einer "qualifizierten Neuorientierung" anzuregen. Im Klartext: Es geht darum, wie und unter welchen Bedingungen in der Zukunft die Pränataldiagnostik ablaufen soll. Ebenso geht es um die Rahmenbedingungen des Schwangerschaftsabbruches.
    Drei Prozent der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland erfolgen aus "medizinisch-mütterlicher" Indikation. Das sind jährlich 4200 von rund 140.000 Abbrüchen, die meisten davon nach der zwölften Schwangerschaftswoche. "Medizinisch-mütterlich" bedeutet seit der Reform des Paragrafen 218 im Jahr 1995 zumeist keine plötzliche Erkrankung der Frau, die zum Abbruch der Schwangerschaft zwingt, sondern eine schwere Erkrankung oder Fehlbildung des Feten, weshalb der Mutter das Austragen der Schwangerschaft nicht zugemutet werden kann.
    Mit der Aufnahme dieser früher "embryopathische Indikation" genannten Begründung in die medizinische Indikation verschwanden weitere Hürden: die Beratungspflicht samt einer Bedenkzeit danach für die Mutter sowie die genaue statistische Erfassung der Abbruchgründe. Vor allem fiel jedoch die Grenze, jenseits derer ein Abbruch nicht mehr möglich ist - die 22. Schwangerschaftswoche. Und: Ein Arzt darf bei einer medizinischen Indikation seine Mitwirkung an einem Abbruch nicht mehr verweigern.
    Sorgen bereitet den Gynäkologen auch der Haftungsdruck, der nach der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung ("Kind als Schaden") steigt. Die Folge heißt: Defensivmedizin. Im Zweifelsfall rät der Arzt zum Abbruch, da er im Falle eines geschädigten Kindes einen Haftungsprozess fürchten muss. "Diese Position konterkariert den Lebensschutz", schreiben die Mitglieder der Arbeitsgruppe im Entwurf ihres Diskussionspapieres: "Ein totes Kind und die Eltern, die seinen Tod befürworten, klagen nicht."
    Die Forderungen der Arbeitsgruppe richten sich nicht nur an Politik und Gesellschaft, sondern auch an ihre eigene Zunft. "Wir brauchen eine bessere Qualität der Pränataldiagnostik", fordert Klaus Diedrich, der Vorsitzende der Gruppe, "und bessere Aufklärung vor, während und nach der Untersuchung." Nur so kann die Frau ihr Recht auf Wissen und Nicht-Wissen wahrnehmen. Eine bessere Qualität der Pränataldiagnostik kann darüber hinaus eine weiterführende "invasive Diagnostik" - etwa Untersuchungen des Fruchtwassers - einschränken und somit Spätabbrüche verhindern. Dies belegen beispielsweise Untersuchungen aus Frankreich.
    Der Gesetzgeber soll nach Meinung der Arbeitsgruppe in folgenden Bereichen aktiv werden:
    <sum> Analog zur Fristenregelung sollte auch vor einem Abbruch aus medizinischer Indikation eine Beratung mit angemessener Bedenkzeit Pflicht werden.
    <sum> Die Lebensfähigkeit des Ungeborenen sollte in der Regel als Grenze gelten, jenseits derer ein Abbruch nicht mehr möglich ist. Als Ausnahme nennt die Arbeitsgruppe schwerste unbehandelbare Erkankungen und Störungen des Ungeborenen, bei denen nach der Geburt keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr eingeleitet würden. Hier, so empfiehlt das Diskussionspapier, sollte eine interdisziplinär besetzte Kommission beraten und entscheiden, in der Geburtsmediziner, Pädiater, Humangenetiker und Psychiater mitarbeiten.
    <sum> Nötig seien gesetzliche Voraussetzungen für eine spezielle statistische Erfassung aller Schwangerschaftsabbrüche aus ehemals embryopathischer, jetzt mütterlich-medizinisch genannter Indikation.
    <sum> Der Gesetzgeber sollte das Weigerungsrecht des Arztes, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, eindeutig klären. Dieses sollte nur bei der traditionellen medizinisch-mütterlichen Indikation aufgehoben sein - dann, wenn das Leben der Mutter gegen das des Kindes steht.
    <sum> Korrigiert werden sollte auch das Haftungsrecht im Bereich der Pränatalmedizin. Eine Haftung sollte nur bei "grober Fahrlässigkeit" - wie jetzt in Frankreich geschehen - zugelassen werden. Für die finanzielle Absicherung eines krank geborenen Kindes müssten andere Möglichkeiten gefunden werden.

    Rückfragen:
    Prof. Dr. med. Klaus Diedrich
    Direktor der Klinik für Frauenheilkunde
    Und Geburtshilfe der Universität zu Lübeck
    Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck
    Tel.: 0451-500-2133; Fax: 0451-500-2139
    E-mail: diedrich@medinf.mu-luebeck.de
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    Pressestelle 54. DGGG-Kongress, Düsseldorf
    Barbara Ritzert
    ProScientia GmbH
    Andechser Weg 17
    82343 Pöcking
    Tel.: 08157-9397-9
    Fax: 08157-9397-97
    E-mail: ritzert@proscientia.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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