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Wissenschaft
Seit gestern (8. September) findet am Essener Universitätsklinikum der zehnte "In-ternational Congress on Neutron Capture Therapy" unter wissenschaftlicher Lei-tung von Professor Sauerwein von der Klinik für Strahlentherapie am Klinikum und unter Schirmherrschaft von Ministerpräsident Clement statt. Bis zum 13. September werden mehr als 250 Mediziner und Naturwissenschaftler aus beinahe allen Teilen der Erde neueste Forschungsergebnisse und Entwicklungen im Bereich der Bor-Neutroneneinfangtherapie diskutieren. Dieser Kongress der Internationalen Gesell-schaft für Neutroneneinfangtherapie wird unterstützt von der Europäischen Kom-mission und dem US Department of Energy, aber auch seitens lokaler Sponsoren, insbesondere durch die Firma AMR Engineering und der Fördervereinigung für die Stadt Essen.
Gezielte und punktgenaue Strahlentherapie
Jede Form von Tumortherapie, sei es Operation, Strahlentherapie oder Chemo-therapie, verletzt bei der Behandlung beziehungsweise Entfernung des Tumors auch gesundes Gewebe. Ziel vieler Forschungsanstrengungen ist es, die Schädi-gung des gesunden Gewebes zu vermindern. Eines der erfolgversprechendsten Konzepte einer derartigen gezielten Therapie stellt die Bor-Neutroneneinfangtherapie (Boron Neutron Capture Therapy, BNCT) dar. Sie beruht auf der Fähigkeit des nichtradioaktiven Isotops Bor-10, Neutronen einzu-fangen und sofort danach in einer winzigen Nuklearreaktion zwei Teilchen zu produzieren, ein sogenanntes Alpha-Teilchen und einen Lithiumkern. Bei dieser Reaktion wird viel Energie freigesetzt (2,5 MeV), die die Teilchen um etwa 10 µm im Gewebe transportiert. Die Reichweite dieser Reaktion ist jedoch außerordent-lich klein (10 µm). Das entspricht in etwa dem Durchmesser einer Zelle. Wenn es gelingt, derartige Reaktionen gezielt und ausschließlich in Tumorzellen zu produ-zieren, würde eine äußerst elegante Therapie gegen Krebs zur Verfügung stehen: Krebszellen könnten gezielt vernichtet werden, während das sie umgebende ge-sunde Gewebe nicht in Mitleidenschaft gezogen wird.
Um eine derartige Therapie erfolgreich durchführen zu können, müssen zwei völ-lig unterschiedliche Bedingungen gleichzeitig erfüllt sein: Das Bor muss gezielt von Tumorzellen aufgenommen und Neutronen müssen in ausreichender Anzahl ebenfalls an den Tumor herangebracht werden, der sich üblicherweise tief im Körper eines Menschen befindet. Das erste Problem stellt eine große Herausfor-derung für Chemiker, Pharmakologen und Biologen dar. Es muss eine Substanz entwickelt werden, die Bor-10 enthält und die außerdem als Medikament geeignet ist. Die Eigenschaften einer derartigen Verbindung müssen dann in aufwendigen Versuchen weiter untersucht werden um festzustellen, ob die Verbindung tatsäch-lich für einen Einsatz am Patienten geeignet ist. Das zweite Problem besteht in der Produktion von Neutronen, welche die richtigen Eigenschaften haben, um für eine derartige Therapie genutzt zu werden. Neutronen sind Elementarteilchen, die zusammen mit den Protonen die Atomkerne bilden, also wesentliche Bausteine jeglicher Materie sind. Normalerweise kommen sie in der Natur nicht "frei" vor. Um einen Neutronenstrahl für eine Bor-Neutroneneinfangtherapie zu produzie-ren, wird derzeit ein Kernreaktor benötigt, was sowohl die Forschung als auch den späteren Einsatz der Therapie örtlich sehr einschränkt.
Aktueller Forschungsstand
Derzeit ist an acht Forschungsreaktoren weltweit eine Bestrahlung von Patienten für die Bor-Neutroneneinfangtherapie möglich. Die meiste Erfahrung mit der Behandlung von Patienten gibt es in Japan, der herausragende Vertreter der japa-nischen Ärzte, die diese Therapie durchgeführt haben und durchführen, ist Pro-fessor Yoshinobu Nakagawa. In Amerika, wo bereits in den 50ziger Jahren erst-mals einige Patienten entsprechend behandelt wurden, begann die moderne Ära der Bor-Neutroneneinfangtherapie 1996 am Massachuchetts Institute for Techno-logy (MIT), wo zusammen mit der Harvard University eine Bestrahlungsmög-lichkeit zur Durchführung von klinischen Studien unterhalten wird. In Europa wurde erstmals 1997 auf diese Art ein Patient bestrahlt. Die Bestrahlung wurde unter der Leitung von Professor Sauerwein von der Strahlenklinik Essen am For-schungsreaktor der Europäischen Kommission in Petten (Niederlande) durchge-führt. Die Behandlungen in Petten werden in einer außergewöhnlichen multinati-onalen Form durchgeführt (Patienten aus verschiedenen Europäischen Ländern werden von der Essener Strahlenklinik am Forschungsreaktor der Europäischen Kommission in den Niederlanden behandelt).
In Europa haben in den letzten Jahren drei weitere Zentren Patienten behandelt (Helsinki/Finnland, Stutsvik/Schweden, Rez/Tschechische Republik). All diese genannten Zentren konzentrieren sich vor allem auf die Therapie besonders bösartiger Hirntumore. Einen völlig neuen Weg ist die Universität Pavia/Italien gegangen. Die Leber eines jungen Mannes, die voller Absiedlungen eines Darmkrebses war, wurde dem Patienten entnommen und im Reaktor mit BNCT bestrahlt - dadurch konnten die Krebsabsiedlungen zerstört werden. Anschließend wurde die Leber dem Patienten wieder eingesetzt.
Trotz dieser ersten klinischen Studien ist man vom Einsatz der Bor-Neutroneneinfangtherapie als echte Behandlungsmethode noch weit entfernt. Zunächst müssen weitere Medikamente entwickelt und die Anwendung des Neut-ronenstrahls am Patienten deutlich verbessert werden. All diese notwendigen Weiterentwicklungen können nicht von einen Fachgebiet alleine erbracht werden. Wie selten in der Medizin ist eine Zusammenarbeit der verschiedensten Fächer notwendig.
Ziele des Kongresses
Ein wesentliches Ziel des Kongresses am Essener Universitätsklinikum ist die Vor-stellung und kritische Diskussion der Ergebnisse bisheriger klinischer Studien, an welchen weltweit mehr als 200 Patienten teilgenommen haben. Der Kongress findet dabei erstmalig in einem Krankenhaus und mit Unterstützung der Europäischen Kommission für Krebsforschung und Krebstherapie (European Organisation for Research and Treatment of Cancer; EORTC) statt. Ein weiteres Ziel ist es, die Er-gebnisse der Grundlagenforschung aus dem Labor rasch und gezielt in der klini-schen Anwendung umzusetzen. Diese Forschungsstrategie wird unter dem engli-schen Begriff "Translational Research" zusammen gefasst und inzwischen als gute Voraussetzung bei der Entwicklung neuartiger Behandlungskonzepte gegen Krebs angesehen. Die Forschung für die Neutroneneinfangtherapie hat diesen Weg bei-spielhaft von Beginn an beschritten. Die Weiterentwicklung der Therapie findet im Zuge eines multidisziplinären Ansatzes statt. So müssen zunächst Chemiker, Phar-makologen und Biologen Medikamente entwickeln, die ausschließlich von Krebs-zellen aufgenommen werden. Darüber hinaus müssen Neutronenquellen zur Be-strahlung der Patienten entworfen werden - das erfordert derzeit einen Kernreak-tor.
Nuklearingenieure, Physiker und Mathematiker sind gefragt, entsprechende Anla-gen zu entwerfen und zu unterhalten, vor allem aber auch um vergleichbare Neu-tronenquellen zu schaffen, die auch in Krankenhäusern aufgestellt werden können. Schließlich sollen alle Bemühungen dazu führen, Strahlentherapeuten zu erlauben, Patienten vor Ort in den Krankenhäusern zu behandeln. Unterstützt werden sollen diese Behandlungen unter anderem von Chirurgen, internistischen Onkologen und Neurologen, aber auch von Medizinphysikern. Vertreter all dieser Disziplinen tref-fen sich derzeit am Essener Universitätsklinikum, um über die Ergebnisse klinischer Studien zu diskutieren. Spezielle Tagungspunkte zu den Themen Chemie, Physik, Mathematik, Biologie, Nukleartechnologie und Strahlendosimetrie bieten ein Fo-rum für weltweit führende Spezialisten auf den genannten Gebieten. Die Demonst-ration kürzlich entwickelter Techniken, die es erlauben, die genaue Verortung der eingebrachten Borverbindungen in Patienten oder in einzelnen Zellen sichtbar zu machen, stellt einen weiteren Höhepunkt des Kongresses dar.
Standort Essen
Das Universitätsklinikum Essen ist derzeit deutschlandweit die einzige Klinik, die über die Möglichkeit der Strahlentherapie mit schnellen Neutronen verfügt. Das Essener Zyklotron, an dem diese Form der Behandlung durchgeführt wird, erlaubt im Prinzip auch den Einsatz der Bor-Neutroneneinfangtherapie, auch wenn diese Form der Therapie bislang nur in der Forschung und nicht an Patienten zum Ein-satz gekommen ist. Die Kosten für eine derartige Einrichtung belaufen sich auf rund 25 Millionen Euro.
Wissenschaftler aus aller Welt
Stellvertretend für die mehr als 250 Teilnehmer des Kongresses sind als Gesprächs-partner anwesend:
Professor Otto Harling vom Massachuchetts Institute of Technology. Er ist einer der berühmtesten Nuklearphysiker der USA. Sein Name ist mit der friedlichen Nutzung der Nukleartechnologie verbunden. Inzwischen hat er seine For-schungsarbeit ausschließlich auf BNCT ausgerichtet.
Dr. Raymond Moss, ebenfalls ein Nuklearwissenschaftler, arbeitet bei der ge-meinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission. Er ist dort der Pro-jektleiter für Neutronen-Einfangtherapie.
Professor Yoshinobu Nakagawa ist der Arzt mit der größten Erfahrung beim Einsatz von BNCT am Patienten. Im Gegensatz zu allen anderen Ländern wurde in Japan schon sehr früh BNCT als Behandlungsmethode eingesetzt. Professor Nakagawa behandelt seine Patienten an zwei unterschiedlichen Forschungsreak-toren in Japan. Er selbst ist Spezialist für Kinderneurochirurgie und Vizepräsident des Nationalen Kagawa Kinderkrankenhauses sowie des Nationalen Zentsuji Krankenhauses im Süden Japans. Von 1982 bis 1984 arbeitete er an der Freien Universität Berlin im dortigen Institut für Neuropathologie. Er erhält auf dem Kongress am Donnerstag der Hatanaka Memorial Award, der als prestigeträch-tigste wissenschaftliche Auszeichnung alle zwei Jahre von der International Socie-ty of NCT verliehen wird.
Professor Wolfgang Sauerwein ist Präsident der ISNCT, Leitender Oberarzt und Vertreter des Klinikdirektors an der Universitäts-Strahlenklinik Essen. Seine Schwerpunkte liegen bei der Strahlentherapie mit Hadronen, mit intraokularen Tumoren, bei der intravaskulären und intraoperativen Strahlentherapie, sowie im internationalen Medizinmanagement und der Forschungskoordination.
Redaktion: Daniela Endrulat, Telefon (02 01) 1 83 - 45 18
Weitere Informationen: Professor Wolfgang Sauerwein, Telefon
(0201) 7 23 - 20 52
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsprojekte
Deutsch
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