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Wissenschaft
Deutschland ging bei der Motorisierung des Straßenver-kehrs einen Sonderweg
Es war das Motorrad, nicht das Auto, das die Deutschen motorisierte. Auf dem Weg in eine automobile Gesellschaft spielte das Motorrad die herausragende Rolle. 1926 gab es mehr Motorräder in Deutschland als Autos. Dieser Befund hatte in der Bundesrepublik Deutschland bis 1960 bestand, in der DDR sogar bis zur Wende 1989. Und etwa 1,5 Millionen Motorräder, die Hälfte aller weltweit zugelassenen, wurden 1938 auf Deutschlands Straßen gezählt, während in den USA, Frankreich und England bereits seit den 1920er-Jahren das Auto den Individual-verkehr dominierte. Außerdem war Deutschland 1938 führend bei der Produktion von Motorrädern. 330 000, also zwei Drittel aller Motorräder weltweit, kamen aus deutschen Fabriken.
Die Zahlen finden sich in der Dissertation „Das Motorrad“ von Frank Steinbeck. Darin untersucht der Historiker die Bedeutung des Motorrads bei der Massenmotorisierung in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen. Frank Steinbeck gelangt zu dem erstmals in der Wissenschaft geäußerten Schluss, dass mit dieser herausgehobenen Stellung des Motorrads bei der Motorisierung des Straßenverkehrs Deutschland im internationalen Ver-gleich einen Sonderweg beschritt. Er promovierte am Fachgebiet Wissen-schafts- und Technikgeschichte bei Prof. Dr. Wolfgang König.
„Die massenhafte Verbreitung von Motorfahrrädern und Kleinkrafträdern war eigentlich ein Armutszeugnis der Deutschen“, sagt Frank Steinbeck. „Denn, obwohl Deutschland ein hochentwickeltes Industrieland war, konnte sich die Mehrheit der Deutschen in der Zwischenkriegszeit ein Auto nicht leisten. Da zeigen sich gravierende Entwicklungsrückstände bei der Massenkaufkraft im Vergleich zu den USA, Frankreich und England. Und beim Auto waren es vor allem die laufenden Kosten wie der Spritpreis, die Kfz-Steuern und die Garagenmieten, die einen Pkw für viele unerschwinglich machten.“
Anders die Situation beim Motorrad. Nicht nur, dass die Industrie die motorisierten Zweiräder in einer breiten Vielfalt sowie in Anschaffung und Unterhalt zu Preisen herstellte, die sich auch Arbeiter und Angestellte leisten konnten. Kleinkrafträder und Motorfahrräder kosteten zwischen 250 bis 600 Reichsmark. Verkehrs- und steuerrechtliche Bestimmungen in der Weimarer Republik begünstigten geradezu den Aufstieg des Motorrads zum Volksfahrzeug: 1922 wurden Kleinkrafträder sowohl von der Kfz- als auch von der Luxusumsatzsteuer befreit. Die Luxusumsatzsteuer, von der private Kraftfahrzeuge, Schmuck, Klaviere und teure Fahrräder betroffen waren, betrug immerhin 15 Prozent des Nettopreises. 1923 wurde für Kleinkrafträder auch die Führerscheinpflicht aufgehoben, unterlagen sie nicht mehr den strengen Haftpflichtbestimmungen für Kraftfahrzeuge. „Die Umstellung der Bemessungsgrundlage für die Besteuerung auf den Hubraum 1928 gab dem massenhaften Absatz von Kleinkrafträdern schließlich einen weiteren kräftigen Schub“, so Steinbeck. Die Reglung betraf Motorräder mit einem Hubraum bis 200 Kubikzentimeter. Mit diesen rechtlichen Erleichterungen trug, so Steinbeck, die Weimarer Republik sowohl den bescheidenen Konsummöglichkeiten der Deutschen als auch ihrem Wunsch nach Motorisierung Rechnung. Insofern war das Motorrad durchaus Ausdruck für wachsenden Wohlstand und erhöhte Lebensqualität der Menschen.
Das Bestreben der Politik allerdings, mit diesen Ausnahmeregelungen den Einsatz des Motorrads auch auf den Berufsverkehr von Arbeitern und Angestellten auszudehnen, griff vorerst nicht. In den 1920er-Jahren war es das bestimmende Verkehrsmittel im Freizeitverkehr und wurde besonders von den Städtern für Wochenendausflüge genutzt. Erst Ende der 1920er-Jahre wandelte sich das Motorrad vom Freizeit- zum Gebrauchsgegenstand und setze sich auch im privaten Berufsverkehr der Arbeiter und Angestellten durch.
An der dominierenden Stellung des Motorades änderte sich auch im Dritten Reich nichts, obwohl das Motorrad den Nazis als rückständig galt, weil es die „Schmach von Versailles“ und damit die Verarmung der Deutschen spiegelte. Außerdem verhieß die NS-Propaganda jedem Deutschen einen Volkswagen. Aber daraus wurde nichts. Bis zu Kriegsbeginn war gerade einmal eine kleine Vorserie für Test- und Propagandafahrten produziert worden. „Dem standen 1939 20 Millionen Fahrräder und 1,8 Millionen Motorräder gegenüber“, sagt Steinbeck. Und während in den USA, Frankreich und England weite Teile der Mittelschicht ein Automobil besaßen, blieb es in Deutschland ein Verkehrsmittel der Wohlhabenden. Das änderte sich – wie gesagt – im Westen Deutschlands erst mit dem Wirtschaftswunder, im Osten erst mit dem Untergang der DDR.
Die Dissertation ist auch als Buch erschienen:
Das Motorrad. Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte 216, 57 Euro, ISBN 978-3-515-10074-8
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Weitere Informationen erteilt Ihnen gern: Dr. Frank Steinbeck, Deutsches Museum, Verkehrszentrum, Am Bavariapark 5, 80339 München, Tel.: 089/500806-356, E-Mail: f.steinbeck@deutsches-museum.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Verkehr / Transport, Wirtschaft
überregional
Forschungsprojekte, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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