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27.11.2002 12:59

"Die Plakate hingen zuletzt an den Wänden des Wilnaer Gettos"

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Tübinger Forscher organisiert erstmalig Ausstellung im Frankfurter Jüdischen Museum

    Wilna (Vilnius), das "litauische Jerusalem", galt im 19. und frühen 20. Jahrhundert als geistig-kulturelles Zentrum der Juden Europas. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren mehr als ein Drittel seiner Einwohner Juden. Infolge des Hitler-Stalin-Pakts gelangte Wilna unter sowjetische Herrschaft. Wenige Monate nach der Besetzung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 wurde das Getto errichtet, das bis zum 23. September 1943 bestand. Von seinen Bewohnern haben nur wenige überlebt. Trotz alltäglichen Terrors und Kampfes ums Überleben entwickelten die Menschen im Getto ein kulturelles Leben, das, wie der Dichter Shmerke Kaczerginski sagte, "geistig-kulturelle Kontinuität" ebenso bedeutete, wie es Selbstbehauptungswillen und Selbstachtung ausdrückte. Wie durch ein Wunder sind mit rund 240 handgeschriebenen Konzert- und Theaterplakaten in jiddischer, manche auch in hebräischer und zusätzlich deutscher Sprache einige Zeugnisse aus dieser Zeit erhalten geblieben. Die Ausstellung einer Auswahl von 46 dieser Plakate hat Prof. Stefan Schreiner vom Institutum Judaicum der Universität Tübingen in Zusammenarbeit mit dem Kulturministerium der Republik Litauen und dem Jüdischen Museum Frankfurt am Main organisiert. Die Ausstellung ist noch bis zum 29. Dezember 2002 geöffnet. "Die Plakate sind zum ersten Mal wieder zu sehen, seit sie an den Wänden des Wilnaer Gettos hingen", sagt Schreiner.

    Mit den Plakaten wurde zu Konzerten, Sportveranstaltungen, literarischen Abenden oder auch Vorträgen zur jüdischen Geschichte eingeladen. Das einjährige Bestehen des Lesesaals im Getto war ebenso Anlass für ein kleines Fest wie das 100 000. ausgeliehene Buch. Viele der Schauspieler, Musiker, Künstler, haben in der Zwischenkriegszeit bereits in Wilna (Vilnius) oder andernorts auf der Bühne gestanden und nahmen Stücke aus den 20er und 30er Jahren wieder auf. Dabei gewinnt aus der Rückschau eine Ankündigung wie diese, dass ein Stück am 27. September 1942 "zum letzten Mal" gespielt wird, nachgerade doppelten Sinn: Denn das Stück wurde nicht einfach aus dem Programm genommen, für manche Mitwirkenden sollte es der letzte Auftritt sein... Die zeitliche Einordnung und historische Aufarbeitung der Plakate gelang Schreiner nicht zuletzt durch Tagebücher und Erinnerungen früherer Gettobewohner. Die Plakate sind alle handgeschrieben oder handgemalt. Zum Teil sind sie auf einfaches Papier geschrieben, wurden mit neuen Terminen versehen wiederverwendet, und manche Rückseite diente für ein zweites Plakat. Einige tragen Stempel der Getto-Polizei. Wie aus Tagebüchern und Erinnerungen hervorgeht, haben die jüdischen Theatervorstellungen selbst oft auch deutsche SS- und Wehrmachtsangehörige besucht, berichtet Schreiner. Das litauische Jiddisch sei für Deutsche recht gut verständlich. "Anfänglich waren die Veranstaltungen auch unter den Gettobewohnern umstritten", setzt der Forscher hinzu: "'Auf dem Friedhof spielt man nicht Theater!' - lautete ein Flugblatt, mit dem zum Boykott des Theaters aufgerufen worden war. Doch mit der ersten Aufführung war das Theater akzeptiert."

    Erhalten geblieben sind diese Plakate, weil es mutige Menschen gab, die sie sammelten und versteckt hielten. Nach dem Kriege gehörten sie zu den Beständen des Wilnaer Jüdischen Museums, das 1949 von den sowjetischen Behörden liquidiert wurde. Und wieder wurden die Plakate von couragierten Menschen vor der Vernichtung bewahrt. "Ich selbst habe erst vor fünf Jahren von ihrer Existenz gehört," sagt Schreiner. Der Wissenschaftler hat durch seine Forschungen über die litauischen Juden zahlreiche Kontakte zu jüdischen und litauischen Institutionen in Vilnius geknüpft. Die Idee zur Ausstellung entstand im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2002, bei der Litauen als Partnerland eingeladen war. Schreiner wertet es als "etwas Besonderes", dass das Staatliche Archiv in Vilnius zum ersten Mal zustimmte, diese heute zu seinen Beständen zählenden Getto-Plakate im Original außerhalb Litauens öffentlich zu zeigen. "In Litauen war die Ausstellung zu einem jüdischen Thema im Rahmen der Buchmesse nicht unumstritten. Dort beginnt man erst, die eigene und die jüdische Vergangenheit zu diskutieren", erklärt Schreiner und fügt hinzu: "und für die junge Historiker-Generation in Litauen ist erst jetzt die Zeit gekommen, sich nicht nur mit dem Verhältnis zu Nazi-Deutschland und dem Thema Kollaboration kritisch auseinander zu setzen, sondern auch das jüdische Erbe Litauens zu entdecken."

    Nähere Informationen:

    Die Ausstellung "Schtarker fun Ajsn - Stärker als Eisen - Konzert- und Theaterplakate aus dem Wilnaer Getto 1941 - 1943" ist noch bis zum 29. Dezember 2002 im Jüdischen Museum Frankfurt am Main zu sehen. Jüdisches Museum, Untermainkai 14-15, 60311 Frankfurt am Main, Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr, Mittwoch 10 bis 20 Uhr, Montag geschlossen. Informationen im Internet: http://www.juedischesmuseum.de

    Prof. Stefan Schreiner
    Evangelisch-theologisches Seminar
    Institutum Judaicum/Abteilung Religionswissenschaft und Judaistik
    Liebermeisterstraße 12
    72076 Tübingen
    Tel. 0 70 71/2 97 25 94
    Fax 0 70 71/29 54 33

    Im Internet sind einige der ausgestellten Plakate abgebildet unter der Adresse: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pm/pm.html


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Philosophie / Ethik, Religion
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft
    Deutsch


     

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