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06.12.2002 15:07

Zwangsarbeit und Medizin im "Dritten Reich"

Rita Wilp Stabsstelle Unternehmenskommunikation
Bereich Humanmedizin der Universität Göttingen

    (ukg) Der Abschlussbericht der Untersuchung "Zur Rolle der Zwangsarbeiter am Universitätsklinikum Göttingen" ist vorgelegt worden. Der Vorstand des Bereichs Humanmedizin stellte im Jahr 2000 der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin (Leitung: Prof. Dr. Claudia Wiesemann) finanzielle Mittel zur Verfügung, um eine Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der NS-Zwangsarbeiter am Universitätsklinikum Göttingen einzurichten. Diese bundesweit einzigartige Untersuchung wurde durch eine engagierte Forschergruppe, unter der Leitung des Medizinhistorikers Professor Dr. Volker Zimmermann, mit dem bislang wenig beachteten Thema "Zwangsarbeit und Medizin in den Jahren 1939 bis 1945", speziell mit der Situation in Göttingen durchgeführt. Der Vorstand des Bereichs Humanmedizin wollte hiermit einen Beitrag zur Aufarbeitung der Rolle des Göttinger Universitätsklinikums in der NS-Zeit leisten. Mehrfach wurde nach Beginn der Untersuchung die Anregung geäußert, der Bereich Humanmedizin solle zur Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" einen finanziellen Beitrag leisten, um die ehemaligen Zwangsarbeiter zu entschädigen. Dieses wurde mit dem Träger des Bereichs Humanmedizin geprüft. Eine Beteiligung aus Mitteln des Bereichs Humanmedizin ist nicht möglich. Ein solcher Beitrag von öffentlichen Einrichtungen ist durch die Bundesbeteiligung bereits abgedeckt. Im Januar 2003 will der Vorstand den Abschlussbericht der Untersuchung mit der Arbeitsgruppe diskutieren. Dabei werden ein zeitgleicher Projektantrag sowie zukünftige Aktivitäten im Mittelpunkt stehen, wie MitarbeiterInnen des Bereichs Humanmedizin, Studierende und Bürger der Stadt Göttingen zur Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter beitragen können.

    Die Forschungsarbeiten wurden erschwert durch ausgelagerte Akten aus der NS-Zeit. Seit längerem wird geprüft, ob diese Krankenakten der Schweigepflicht unterliegen und unter welchen Voraussetzungen sie für zeitgeschichtliche Analysen verwendet werden können.

    Die Forschungen von Dr. Andreas Frewer und Karin Gottschalk ergaben, dass 125 ausländische Arbeitskräfte im Zeitraum von 1940 bis 1945 in unterschiedlichen Klinikeinrichtungen in Göttingen beschäftigt waren. Die meisten von ihnen wurden 1942/43 eingestellt und blieben bis zum Ende des Krieges in Göttingen. Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter kamen aus 14 Nationen, wobei die osteuropäischen Arbeiterinnen eindeutig überwogen. Nach 1943 wurden noch westeuropäische Männer zwangsweise rekrutiert. Diese Entwicklung ist aufgrund des Kriegsverlaufs im Osten nachvollziehbar und lässt sich auch für die Göttinger Kliniken belegen. Vergleicht man die Beschäftigung nach klinischen und nicht-klinischen Einsatzbereichen, so haben 60 Prozent der Arbeitskräfte in den Kliniken Aufgaben als "Haus- und Stationsmädchen" oder Pflegende verrichtet. Knapp 30 Prozent davon waren in der Chirurgie eingesetzt. Im Versorgungsbereich waren fast alle Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Küche und Wäscherei beschäftigt. 75 Prozent der Zwangsarbeitenden waren Frauen. Die meisten waren sehr jung und kamen aus Russland sowie der Ukraine. Über 60 Prozent aller ausländischen Arbeitskräfte waren unter 22 Jahre alt. Die Zwangsarbeitenden waren jeweils in der Nähe ihres Einsatzortes untergebracht, so zum Beispiel im damaligen "Kirchweg" (Adresse der Universitätsfrauenklinik und Medizinische Klinik) sowie in der Goßlerstraße oder "Am Steingraben" (Alte Hautklinik).

    Die Geschichte der Zwangsarbeitenden im Gesundheitswesen des NS-Staates ist von Seiten der medizinhistorischen Forschung bislang kaum untersucht worden. Drei größere Bereiche sind bei diesen Forschungen von Bedeutung: die direkte Beschäftigung, die reduzierte Krankenversorgung und der Missbrauch von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern als "Untersuchungsobjekte" oder bei "Zwangsabtreibungen".

    Professor Volker Zimmermann und sein Team untersuchten Unterlagen des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes, des Göttinger Universitätsarchivs und des Stadtarchivs. Wie Unterlagen des Oberpräsidenten der Provinz Hannover belegen, benutzte die Universitätsfrauenklinik darüber hinaus schwangere Zwangsarbeiterinnen aus einem der großen "Gemeinschaftslager" der Göttinger Industrie- und Gewerbebetriebe für Lehrzwecke. Aus den Akten des Oberpräsidenten zum Gesundheitswesen und Unterlagen des Universitätskurators zu den "Lohnempfängern" der Kliniken ist überdies der Einsatz französischer und niederländischer Medizinstudenten zu belegen. Diese wurden in der Pflegearbeit, aber auch im Labor verschiedener Abteilungen eingesetzt, so in der Hals-Nasen-Ohrenklinik, der Frauen- und der Nervenklinik. Bei der ärztlichen Versorgung der Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter spielten die Universitätskliniken eine wichtige Rolle. So behandelten sie mehrfach verletzte und erkrankte Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen sowie auch deren Kinder - allerdings wohl oft in gesonderten Räumen. Nach Errichtung spezieller "Sanitätsbaracken" übernahm u.a. ein an die Chirurgische Universitätsklinik notdienstverpflichteter Arzt aus dem annektierten "Protektorat Böhmen und Mähren" die Betreuung der Kranken.

    Weitere Informationen:
    Universität Göttingen - Bereich Humanmedizin
    Abt. Ethik und Geschichte der Medizin
    Prof. Dr. Volker Zimmermann
    Humboldtallee 36
    37073 Göttingen
    Tel.: ++49 (0)551 / 39 - 9006


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    regional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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