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Seit dem 4. Jahrhundert stellen Christen Jesus am Kreuz dar und drücken damit ihren Glauben aus. Wie sich dies auf die christliche Körperwahrnehmung auswirkte, hat der RUB-Theologe Sebastian Bialas untersucht. In seiner Diplomarbeit "Kreuzigungsdarstellungen als Anschauungs- und Identifikationsobjekte" erläutert er, welche Identifikationen der Gekreuzigte hervorrief.
Bochum, 05.03.2003
Nr. 68
Fromme Körperwahrnehmung
Von Mitleid bis Bewunderung: Christus am Kreuz
Ausgezeichnete Arbeit zu Kreuzigungsdarstellungen
Seit dem 4. Jahrhundert stellen Christen Jesus am Kreuz dar und drücken damit ihren Glauben aus. Wie sich dies auf die christliche Körperwahrnehmung auswirkte, hat der RUB-Theologe Sebastian Bialas untersucht. In seiner Diplomarbeit "Kreuzigungsdarstellungen als Anschauungs- und Identifikationsobjekte" erläutert er, welche Identifikationen der Gekreuzigte hervorrief. Zugleich stellt er heraus, wie dadurch leibfeindliche Tendenzen im Christentum "durch die Hintertür frommer Betrachtung" eingeholt werden. Seine der Rezeptionsästhetik verpflichtete Arbeit wurde von Prof. Dr. Wilhelm Geerlings (Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Christliche Archäologie) betreut. Sie erhielt den "Preis für Studierende 2002" als beste Abschlussarbeit der Katholisch-Theologischen Fakultät der RUB.
Körperwahrnehmung und Identifikationsobjekt
Der Körper ist für jede Erkenntnis wie für jede Selbst- und Fremdwahrnehmung zentral. Wir sind Körper, nehmen andere als Körper wahr und lernen so den eigenen Körper und seine Fremdheit kennen. Das gilt auch beim Betrachten des Kruzifixes: Im Blick auf den gekreuzigten Körper ist, so Bialas, unabhängig vom jeweiligen Glauben der eigene Körper im Prozess der Anschauung mitenthalten. Nach Bialas müssen aber zwei Voraussetzungen erfüllt sein, bevor der Körper des Gekreuzigten als religiöses Identifikationsobjekt dienen kann. Es muss allgemein akzeptiert sein, dass nicht irgendwer, sondern Gottes Sohn in seinem Leiden und der Erlösung des eigenen Lebens dargestellt ist. Darüber hinaus müssen vom Bild des gekreuzigten Körpers "Identifikationsmechanismen, wie Bewunderung, Erotik, evoziertes Mitleid usw. hervorgerufen werden."
Der Beginn der Darstellung
Die ersten Christen verwendeten das körperlose Kreuz als Symbol. Man zögerte, den Körper bildlich darzustellen, um das Heilige nicht durch die Fixierung in gegenständlicher Kunst zu entwürdigen. Den Augen der ersten Christen wie den harschen heidnischen Kritikern wurde der Gekreuzigte entzogen. Erst nach der präzisen Abgrenzung zum heidnischen Bilderkult und zum alttestamentlichen Bilderverbot fast 400 Jahre nach dem Tod Jesu taucht erstmals im orthodoxen Raum der Kirche der Gekreuzigte auf. Zentral ist die theologische Aussage. Zu sehen ist der wache Erlöser: Der Gekreuzigte hat große Augen und weist unmissverständlich auf die Unsterblichkeit des Gottessohnes hin. Das eigentliche Kreuzigungsgeschehen wird stark theologisiert, um es darzustellen. In der Folgezeit kommt es daraufhin zu einer großen Anzahl verschiedenartiger Darstellungen, die den Gekreuzigten unterschiedlich interpretieren und verschiedene Identifikationsweisen zulassen.
Die Inszenierung des Körpers am Kreuz
Der gekreuzigte Körper wird in Szene gesetzt und mit Bedeutungen aufgeladen. Königliche Gewänder, ornamental gewundene Lendentücher oder der unbekleidete Körper inszenieren den Erlöser am Kreuz. Wundmale werden herausgehoben, Dornen der Krone bohren sich in das Fleisch, das Blut rinnt am Körper hinunter und womöglich auf den Schädel Adams zu seinen Füßen, um die Tilgung der Schuld zu verdeutlichen. Der Blutstrahl wird von Engeln als Personifikationen der Kirche aufgefangen, die das Heil verwaltet. Schönheit und Hässlichkeit des Körpers tragen dazu bei, die Reinheit oder das Opfer des Gottessohnes drastisch vor Augen zu stellen. Hans Robert Jauß hat für literaturwissenschaftliche Analysen drei Identifikationsformen unterschieden (sympathetisch, kathartisch, admirativ). Bialas wendet in seiner Untersuchung diese Kategorien auf mehrere Dutzend Darstellungen an.
Mitleid auslösen (sympathetische Identifikationsform)
Ein schmerzverzerrtes Gesicht, äußerlich sichtbare Wunden und Zeichen von Erschöpfung lösen Mitleid aus. Auslöser dieser tiefen Emotionen kann der entsprechend ästhetisierte Körper des Gekreuzigten sein. Zu typischen Mitleid evozierenden Signalen gehören das Durchhängen oder die äußerste Anspannung des Körpers am Kreuz. Spuren der Folter, Blutrinnsale, Wunden und Schweißperlen unterstützen die Auffassung des Gekreuzigten als Sinnbild für drastisches Leiden und Tod. Der Betrachter findet eigenes Leiden gespiegelt und überboten. Mit dem Herrn leiden zu wollen, kann sogar zu Phänomenen wie strenger Askese oder Selbstgeißelungen führen.
Bewunderung bewirken (admirative Identifikationsform)
Über den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung, sowie zusätzliche Hinweise auf quälende Einwirkungen (z.B. Wunden) schließt der Betrachter aus allgemeinmenschlicher Erfahrung entsprechenden Schmerz und bewundert die zuwiderlaufende heroische Ruhe und Gelassenheit des Gekreuzigten. Ein solcher Gekreuzigter wird zum Vorbild, um Leiden und Qualen zu erdulden bzw. sich ihnen zu widersetzen. Auch die Erotisierung des Körpers und insbesondere die Betonung der Makellosigkeit in Verbindung mit dem Kreuz führen zur bewundernden Identifikation.
Zukunft entlasen (kathartische Identifikationsform)
Die kathartische Identifikation hat "für das Leben des Betrachters entlastende Funktion". Er bleibt nicht im Mitleid oder der Bewunderung des Anderen stehen, sondern fühlt sich selber von Schwäche und Leiden befreit. Berühmt ist der Gekreuzigte auf Matthias Grünewalds Colmarer Altarbild. Johannes der Täufer - ein Anachronismus! - zeigt zum Betrachter gewandt ausdrücklich auf den Gekreuzigten. Ursprünglich war der Altar in einem Krankensaal aufgestellt. Die Kranken sahen ihr Leiden im Gekreuzigten aufgehoben und überwunden. Zu dieser Darstellungsstrategie zählen auch die so genannten Pestkruzifixe mit von Pestbeulen übersäten Körpern. Der Blick auf den Gekreuzigten wird zur körperlichen Begegnung mit ihm. Ein Hymnus des 13. Jahrhunderts (Salve caput cruentatum, Arnulf von Löwen, 1250), der sich bis heute im Gesangbuch befindet (z.B. Gotteslob 179,6), formuliert: "Erscheine (Jesus Christus) mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl."
Nachspielen, Liebkosen und Berühren
Passionsspiele, das Aufkommen des Kreuzweges als Meditations- und Erlebnisform, die kultische Verehrung des Gekreuzigten in der Liturgie des Karfreitags und Vieles mehr, sind Ausdruck der Identifikation mit dem Gekreuzigten und des Bedürfnisses der Körperwahrnehmung. Besonders deutlich wird dies auch in Darstellungen, die den Gekreuzigten zeigen, wie er scheinbar jemanden - den Betrachter - umarmt, wie Menschen vor ihm knien und den Körper küssen, wie innig beispielsweise bei der Kreuzabnahme sein Körper von den Durchführenden umschlungen wird.
Die Schau des Gekreuzigten verändert die Körperwahrnehmung des Christen
Über die Darstellung des Körpers am Kreuz, die für die Glaubenspraxis des Christen einen hohen Stellenwert einnimmt, kommt es zur positiven Verbindung von Körpererfahrung und -bewusstsein im Kontext von Ritual und Frömmigkeit. Die Darstellung des Körpers nutzt die Emotionalität auf Seiten des Rezipienten. Sie "intensiviert die Beziehung des Gläubigen zu seinem Erlöser und führt zu Identifikationsformen." Vermittelt durch Identifikationsprozesse und die Ästhetisierung des Gekreuzigten wird der Körper dem Betrachter als Ort und als wichtige Voraussetzung seiner Wahrnehmung bewusst. "Körper und Sinnlichkeit erfahren eine positive Bewertung, weil sie den Körper zu erkennen geben und für jedwede Erkenntnis und den Dialog mit der Außenwelt des eigenen Körpers unabdingbar sind," schließt Bialas.
Weitere Informationen
Sebastian Bialas, Katholisch-Theologische Fakultät der Ruhr-Universität, 44780 Bochum, Tel: 0234/32-22617, E-Mail: Sebastian.Bialas@rub.de
Sebastian Bialas erhielt einen Preis an Studierende der Ruhr-Universität.
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Philosophie / Ethik, Religion
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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