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Wissenschaft
S p e r r f r i s t: Samstag, 14. Juni 2003, 12.00 Uhr
Ein Schlüsselbegriff in der Diskussion um die Forschung mit Stammzellen und dem so genannten reproduktiven und therapeutischen Klonen ist der der Totipotenz. Eine totipotente Zelle kann alles. Embryonale Stammzellen sind totipotent, weil sich aus einer einzelnen Zelle ein eigenständiger Mensch entwickeln kann. Das 1991 in der Bundesrepublik in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz definiert einen Embryo als "die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individum zu entwickeln vermag." Nach diesem Gesetz ist deshalb die Gewinnung von embryonalen Stammzellen des Menschen in Deutschland verboten. Das seit Juli 2002 geltende Stammzellenimportgesetz stützt sich ebenfalls auf diese Definition, erlaubt aber die Forschung mit embyronalen Stammzellen des Menschen unter strengen Auflagen. Prof. Jens Reich, Mediziner und Bioinformatiker vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch und Mitglied im Nationalen Ethikrat, stellt die Brauchbarkeit dieser Definition für die Forschung in Frage. "Der Begriff der Totipotenz ist beim gegenwärtigen Stand nicht mehr praktisch brauchbar", sagte Prof. Reich in einem Workshop über "Bioethik - Gene, Geld und Wissenschaftler - Grenzziehung für verantwortungsvolles Handeln" im Rahmen des Berlin-Buch Congress on Biotechnology 2003. "Ich bin mir bewusst, dass diese Ansicht umstritten sein muss, zumal die Gesetzgebung darauf basiert. Die jüngsten Erkenntnisse in der experimentellen Entwicklungsbiologie haben zu diesem Problem geführt ", sagte er. Zugleich plädierte er für ein zeitlich begrenztes, an den gentechnischen Entwicklungen ausgerichtetes Vorgehen, in dem genau beschrieben wird, was ein Forscher in Deutschland tun darf und was nicht.
Vor allem drei Gründe machte Prof. Reich für seine Auffassung geltend. Als nicht brauchbar erweist sich nach seiner Ansicht erstens schon die in der Definition im Gesetz gemachte Bedingung "bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen", wenn diese nicht benannt werden. "Diese Definition mag vor 12 Jahren ausreichend gewesen sein. Heute ist sie unvollständig. Wie sind Totipotenz oder ihr Fehlen zu belegen, wenn menschliche Zellen dafür eingesetzt werden, spezialisierte Körperzellen zu züchten, nicht aber einen Menschen? Ob die Ergebnisse aus manchen Tierversuchen übertragbar sind, bleibt bei der komplexen Sachlage unklar".
"Totipotenz ist im Labor manipulierbar"
Zweitens können Stammzellen umprogrammiert werden. "Die Totipotenz einer Zelle im Labor ist manipulierbar. Totipotenz lässt sich abschalten, sie lässt sich aber auch anschalten", sagte Reich. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Forschungen von Karin Hübner und Hans Schöler, deutschen Wissenschaftlern in den USA, die embryonale Stammzellen von Mäusen so programmiert haben, dass aus ihnen Eizellen und sogar embryoähnliche Gebilde (Blastozysten) entstanden sind. Diese Arbeiten haben großes Aufsehen erregt, da sie vermuten lassen, dass Stammzellen vielleicht mit einem komplizierten Verfahren zu einem ganzen Individuum geklont werden können.
"Zum Dritten, gleichgültig, wie man zu der Forschung steht, ob Befürworter oder Gegner, den Nachweis, ob aus einer menschlichen Zelle, die zum Beispiel nach dem Dolly-Verfahren gewonnen worden ist - in eine entkernte Eizelle wird der Kern einer Körperzelle eingebaut - , tatsächlich ein Mensch entstehen kann, muss die Forschung schuldig bleiben. Den Beweis oder die Widerlegung, nämlich durch Schwangerschaftsversuche, wollen wir ja gerade kategorisch ausschließen", sagte Prof. Reich.
Klassifizierung von experimentellen Handlungen - Ausweg aus dem Dilemma ?
Gibt es einen Ausweg aus dieser "Definitionsfalle"? "Es bedarf eines zeitlich begrenzten konkreten Handlungskatalogs, der sich nach den gentechnischen Entwicklungen richtet, um aus diesem Dilemma herauszukommen", schlug Prof. Reich vor. "In diesem Katalog müsste festgelegt werden, was verboten ist". Wird sich die Diskussion nicht trotzdem weiter zwischen Befürwortern und Gegnern des Klonens und der Stammzellforschung im Kreise drehen? "Moralische Urteile muss man an konkrete Handlungen anlegen, nicht aber an ein Sein, das vielleicht entstehen könnte, was sich aber nicht wissenschaftlich feststellen lässt", meinte Prof. Reich.
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch
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Barbara Bachtler
Tel: 030/94 06 - 38 96
Fax:030/94 06 - 38 33
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Informationstechnik, Medizin
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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