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Wirtschaftswissenschaftler der Universität Mannheim nimmt Stellung zur aktuellen Diskussion um die Lösung der finanziellen Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung
Das bereits in der Rürup-Kommission diskutierte und nun von Horst Seehofer (CSU) erneut in die Debatte zur Lösung der Probleme der finanziellen Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eingebrachte Modell einer Bürgerversicherung hält Professor Dr. Peter Albrecht, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Versicherungswissenschaft der Universität Mannheim und Mitglied der Kommission Soziale Sicherheit ("Herzog-Kommission") der CDU, für einen "gefährlichen Irrweg". Die Einbeziehung aller Bürger - insbesondere der Beamten, Freiberufler und Selbständigen in die GKV löse die finanziellen Probleme der GKV nur vordergründig und kurzfristig, vergrößere sie langfristig aber erheblich, so Albrecht. Ausführlich nimmt der Mannheimer Wirtschaftswissenschaftler zu dem Thema wie folgt Stellung:
"Das zentrale Problem der GKV besteht darin, dass das Volumen an Beiträgen der gesetzlich Versicherten immer mehr ansteigen muss (je nach Projektion und Annahmen über die Entwicklung der Kosten im Gesundheitswesen drohen Beitragssätze zwischen 17 % und 25 % bis zum Jahr 2040), um dafür auszureichend zu sein, das Volumen an Leistungen zu finanzieren. Dies liegt neben der generellen Kostenentwicklung im Gesundheitswesen vor allem daran, dass im Zeitablauf immer mehr Leistungsempfänger im Rentenalter sein werden und darüber hinaus diese Leistungsempfänger eine steigende Lebenserwartung aufweisen, d.h. immer mehr Leistungen empfangen ("doppelter Alterungsprozess"). Die Beiträge der Rentnergeneration zur GKV reichen aber nicht aus, das von ihnen in Anspruch genommene Leistungsvolumen zu finanzieren. Dies bedingt, dass die im Berufsleben stehenden GKV-Mitglieder diese Finanzierungslücke im Rahmen ihrer eigenen Beiträge ausgleichen müssen. Aufgrund der demographischen Entwicklung werden diese im Berufsleben stehenden GKV-Versicherten aber relativ zur Rentnergeneration immer weniger. Die GKV weist damit die gleiche Anfälligkeit gegenüber der demographischen Entwicklung auf, wie alle anderen Sozialversicherungssysteme auch.
Eine Ausdehnung der GKV auf die Gesamtbevölkerung unter Einschluss von Beamten und Selbständigen erhöht daher zwar zunächst das Beitragsaufkommen, da die Zahl der Beitragszahler zunimmt. Mit einer zeitlichen Verzögerung kommt es dann aber zwangsläufig auch zu einem Anstieg der Leistungen, da alle Beitragszahler auch Leistungsempfänger sind und diese Leistungen mit steigendem Alter ansteigen werden.
Die Lösung der Bürgerversicherung löst das strukturelle Problem der GKV also nicht, sondern sie multipliziert es. Die negativen Effekte des doppelten Alterungsprozesses werden im Rahmen einer größeren Personengesamtheit nicht vermindert, sondern - im Gegenteil - verstärkt. Es entsteht nur ein vorübergehender positiver Finanzierungseffekt, der aber im Zeitablauf durch einen negativen Ausgabeneffekt überkompensiert wird. Mit anderen Worten: Der Sprengsatz wird zwar später gezündet, dann aber mit umso höherer Sprengkraft.
Diese simple Analyse entlarvt das Konzept der Bürgerversicherung als das was sie ist, ein vordergründiger, rein populistischer Ansatz, der vorgibt, gerecht zu sein ("es darf keine Bevölkerungskreise geben, die sich der Solidarität entziehen"), dem Grunde nach aber höchst ungerecht und unsozial ist, denn die Finanzierungsprobleme werden einfach auf die künftigen Generationen verlagert, die wieder einmal die Zeche dafür zahlen würden, dass die Lösung der Probleme der sozialen Sicherungssysteme verschleppt wird. Die Konzeption der Bürgerversicherung erinnert zudem stark an das sozialistische Prinzip, dass, wenn schon ein System strukturelle Defizite aufweist, dann aber auch alle darunter leiden sollen. Es gibt nur einen einzigen Ansatz, der dazu geeignet ist, die Wirkungen des doppelten Alterungsprozesses aufzufangen und dies ist die Einbeziehung von kapitalgedeckten
Elementen in die sozialen Sicherungssysteme . Dies kann innerhalb der Sozialsysteme erfolgen (durch Aufbau einer Demographiereserve) oder außerhalb der Systeme (alternative Deckung von bestimmten Leistungsbündeln durch die Privatversicherungswirtschaft) oder - am besten - beides, aber an dem zumindest graduellen Aufbau einer Kapitaldeckung führt kein Weg vorbei, wenn man eine wirklich nachhaltige Lösung finden möchte, die auch die Gerechtigkeit zwischen den Generationen nicht außen vor lässt.
Der von der CSU in die Diskussion gebrachte Ansatz, anstelle der Einführung kapitalgedeckter Elemente in die GKV, die Selbstbeteiligungen der Patienten zu erhöhen, um dadurch die finanzielle Situation der GKV zu verbessern, kann offenkundig nicht wirklich zu einer befriedigenden Lösung führen. Würden ansonsten keine weiteren Maßnahmen getroffen, dann würden die Auswirkungen des doppelten Alterungsprozesses die GKV-Versicherten in ungemilderter Intensität treffen, da es im Zeitablauf zu einer dramatischen Ausweitung der Selbstbeteiligungen kommen müsste, um die entstehenden finanziellen Defizite schließen. Auch dieser Lösungsvorschlag ist, wenn er auf sich allein gestellt bleibt, ein offenkundiger Irrweg. Dies gilt ebenso für die in der Rürup-Kommission diskutierte Übertragung des Schweizer Modells der Kopfprämien auf deutsche Verhältnisse. Dies ist dabei in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen erfordert es massive staatliche Transferzahlungen an einkommensschwache GKV-Versicherte (je nach Schätzung wären dies 20 - 30 Mrd. EUR), zum anderen trägt es - da das Gesamtvolumen an Beiträgen nur anders verteilt wird - den Effekten des doppelten Alterungsprozesses keinerlei Rechnung, d.h. auch diese Lösung beinhaltet keinerlei Nachhaltigkeit und geht damit ebenfalls zu Lasten der künftigen Generationen. Dies ist und bleibt in höchstem Maße ungerecht."
Weitere Informationen zu Professor Dr. Peter Albrecht sind im Internet unter http://www.bwl.uni-mannheim.de/Albrecht abrufbar. Digitales Fotomaterial ist auf Anfrage erhältlich.
Kontaktadresse:
Professor Dr. Peter Albrecht, Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Risikotheorie, Portfolio Management und Versicherungswirtschaft, Telefon: (0621) 181-1680, Fax: (0621) 181-1681, E-Mail: risk@bwl.uni-mannheim.de.
Universität Mannheim
Fakultät für Betriebswirtschaftslehre
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft, Mathematik, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Physik / Astronomie, Politik, Recht, Wirtschaft
überregional
Forschungsergebnisse, Personalia
Deutsch
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