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Wissenschaft
Neue Ausgabe der „Zeithistorischen Forschungen“ online und gedruckt erschienen (Heft 1/2017)
Die Frage nach der Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen stellt sich in der Bundesrepublik nicht erst seit 2015, sondern war schon früher in verschiedenen Konstellationen akut. Ende der 1970er-Jahre suchten vor allem „Boat People“ aus Vietnam Schutz im Westen. Im aktuellen Heft der „Zeithistorischen Forschungen“ analysiert Frank Bösch, welche Rolle zivilgesellschaftliche Gruppen, politische Parteien, Medien und Bürokratie bei der Aufnahme spielten.
Besonders durch mediale Solidaritätskampagnen (etwa der Hamburger „ZEIT“) und durch christdemokratische Initiativen (etwa des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht) entstand in der Bundesrepublik seit Ende 1978 öffentlicher Druck zugunsten von Flüchtlingen aus Südostasien. Die „Boat People“ wurden visuell und rhetorisch mit der deutschen Vertreibungsgeschichte am Ende des Zweiten Weltkriegs verbunden. Neu waren aber die Techniken der Flüchtlingsaufnahme und die Formen humanitärer Hilfe; sie lassen sich als zivilgesellschaftlicher und bürokratischer Wandel interpretieren. Rupert Neudecks Hilfsaktion „Ein Schiff für Vietnam“ mit dem Frachter „Cap Anamur“ fand zeitweise eine breite, parteiübergreifende Unterstützung. Gebremst wurde dieses Engagement schließlich durch das Aufkommen ausländerfeindlicher Stimmen Anfang der 1980er-Jahre. Hier drängen sich bei der zeithistorischen Untersuchung zahlreiche Vergleiche mit der Gegenwart auf. In allgemeinerer Perspektive ist auch nach dem historischen Wandel moralischer Standards zu fragen – zu diesem Thema findet sich ein Essay von Habbo Knoch und Benjamin Möckel im Heft, die den Blick auf das gesamte 20. Jahrhundert und das beginnende 21. Jahrhundert erweitern.
Politisch nicht weniger aktuell ist ein Essay von Kiran Klaus Patel, der sich aus Anlass der Brexit-Debatten mit zwei originellen zeithistorischen Vergleichsbeispielen für Austritte aus dem europäischen Verbund beschäftigt, dem algerisch-französischen und dem grönländisch-dänischen Fall in den 1960er bzw. 1980er Jahren. Auch damals ging es jeweils um das Verhältnis von europäischer Integration versus Desintegration sowie um konkrete Fragen der Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den ihr nicht mehr angehörenden Gebieten. Dies hatte viele praktische Folgen, etwa das weitgehende Ende des algerischen Weinbaus. In systematischer Hinsicht plädiert Patel dafür, die Zeitgeschichte Europas komplexer und weniger linear zu schreiben als bislang oft üblich. Es sei stärker nach den Mischungen von nationaler Souveränität und Souveränitätsverzicht zu fragen, aber auch nach der Rolle europäischer Peripherien und dem Erbe des Kolonialismus. Europapolitisch ebenfalls aufschlussreich ist Christoph Cornelißens Beitrag in der Rubrik „Neu gelesen“ über Hans Magnus Enzensbergers Buch „Ach Europa“ von 1987.
Besonderes Interesse findet in der zeithistorischen Forschung derzeit auch die Geschichte der Arbeit. Wie sich gerade die Industriearbeit seit den 1960er Jahren verändert hat und welche Folgen dies für die Beschäftigten hatte, war bereits für die zeitgenössische Soziologie ein drängendes Thema, zu dem zahlreiche Untersuchungen entstanden. Die Geschichtswissenschaft nutzt dieses Material nun für Sekundärauswertungen mit ihren eigenen Fragen und Methoden. So beschäftigt sich Kerstin Brückweh im aktuellen Heft mit arbeitssoziologischen Fallstudien des 1968 gegründeten Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen. Diese Studien erschließt sie als Quellen in einem doppelten Sinne: für den Wandel der Arbeitswelt in den 1970er und 1980er Jahren sowie für eine Historisierung soziologischer Zugänge.
In weiteren Beiträgen des Hefts geht es u.a. um Instandbesetzer und Wohnungsbaupolitik in West-Berlin während der 1980er Jahre, um Reisen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge seit 1950, um die Fotoalben eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs aus den 1940er bis 1970er Jahren, um Willy Brandts erste Autobiographie von 1960 sowie um die Bedeutung des Anfang 2017 verstorbenen Soziologen Zygmunt Bauman für die Geschichtswissenschaft.
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (http://www.zzf-potsdam.de) herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht (http://www.v-r.de) und zugleich im Open Access (http://www.zeithistorische-forschungen.de).
Bei redaktionellen Fragen wenden Sie sich bitte an:
Dr. Jan-Holger Kirsch
Zentrum für Zeithistorische Forschung
Am Neuen Markt 1
D-14467 Potsdam
Tel.: ++49 (0)331/28991-18
E-Mail: kirsch@zzf-pdm.de
Internet: http://www.zeithistorische-forschungen.de
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http://www.zeithistorische-forschungen.de – Zeithistorische Forschungen im Open Access
http://www.zzf-potsdam.de – Website des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam
http://www.v-r.de – Website des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht
Ankunft der »Cap Anamur II« mit vietnamesischen Flüchtlingen im Hamburger Hafen, 5. September 1986 ( ...
picture alliance/rtn – radio tele nord/Peter Wüst
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
überregional
Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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