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Systematisches Defizit beim Umgang mit Langzeitarbeitslosigkeit
Programme zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit, wie das aktuell im Bundeskabinett beschlossene "Teilhabechancengesetz", haben einen systematischen Webfehler. Sie sind rein kurativ ausgerichtet. Es fehlt ihnen komplett eine präventive Komponente.
Prof. Dr. Klaus Watzka aus dem Fachbereich Betriebswirtschaft der Ernst-Abbe-Hochschule/Jena hat dazu eine kritische Analyse angefertigt.
(Die Langfassung dieses Textes ist auf Anfrage gern erhältlich.)
Die Langzeitarbeitslosen von heute sind die fehlenden Personalressourcen von morgen! In Zeiten knapper Arbeitskräfte wird damit aus einem bis dato eher gesellschaftlichen Problem auch ein betriebswirtschaftliches. Unternehmen darf es nicht gleichgültig sein, ob staatliche Programme für Arbeitslose effizient sind oder nicht. Bei einer grundsätzlich erfreulichen Tendenz auf dem Arbeitsmarkt sind bei aktuell 2,28 Mio. Arbeitslosen immer noch 0,82 Mio. langzeitarbeitslos (www.arbeitsagentur.de). Das sind ca. 36%! Für die verbleibenden 64% besteht - insbesondere bei nachlassender Konjunktur - die Gefahr, die potenziellen Langzeitarbeitslosen von morgen zu sein!
Aktuell hat nun Mitte Juli das Bundeskabinett mit dem „Teilhabechancengesetz“ ein Förderprogramm für Langzeitarbeitslose im Volumen von 4 Mrd. € (!) beschlossen. Über Ergänzungen im Sozialgesetzbuch II (§§ 16i, 16e SGBII) soll im Kern ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt mit sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen auf Basis des Mindestlohns entstehen. War eine Person mindestens zwei Jahre arbeitslos, dann kann der Arbeitgeber über zwei Jahre einen Lohnkostenzuschuss von 75% (1.Jahr) und 50% (2. Jahr) erhalten. Nach einer mindestens siebenjährigen Arbeitslosigkeit sind Zuschüsse von 100% über zwei Jahre möglich, die dann bis zum maximalen Förderzeitraum von 5 Jahren jährlich um jeweils 10% sinken. In beiden Fallgruppen ist als neues Element begleitend eine intensive Betreuung und Beratung (= Coaching) von Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch die Arbeitsagentur oder einen beauftragten Dritten vorgesehen (www.bmas.de). Dieses Programm erweitert und verlängert ein ähnlich gelagertes Förderprogramm, das bereits die Vorgängerin von Arbeitsminister Heil, Andrea Nahles, mit einem Förderzeitraum 2015-2019 und einem Fördervolumen von 885 Mio. € ins Werk gesetzt hatte. In diesem Kontext sei auch nochmal an die vielfältigen Programme der letzten Jahrzehnte für „schwer vermittelbare Arbeitslose“ und die große Zahl an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) erinnert. Man nimmt also durchaus viel Geld für die Thematik „Langzeitarbeitslosigkeit“ in die Hand.
Allerdings haben alle Programme einen entscheidenden Webfehler. Sie sind rein therapeutisch ausgelegt. Eine prophylaktische Komponente fehlt völlig. Sie setzen damit systematisch zu spät an! In allen Lebensbereichen betreiben wir aus gutem Grund Prophylaxe. Impfungen sollen den Ausbruch schwerer Krankheiten verhindern, regelmäßige Krebsvorsorge potenzielle Lebensbedrohung früh aufdecken, regelmäßige Sicherheitsschulungen sollen Arbeitsunfälle vermeiden. Schon der Volksmund weiß: Vorbeugen ist besser als heilen! Und der Ökonom steuert dann die Erkenntnis zu, dass prophylaktische Maßnahmen oft erheblich kostengünstiger sind als kurative Maßnahmen.
Nur im Umgang mit Arbeitslosigkeit wird diese eigentlich simple Erkenntnis nicht hinreichend beherzigt. Große Teile der beträchtlichen öffentlichen Mittel für die Reintegration Langzeitarbeitsloser hätten eingespart werden können, wenn Politik (und Tarifpartner!) die Problematik entschlossener, früher und vor allem mit anderer Akzentsetzung angegangen wären. Das lange Zuwarten und die fehlenden vorbeugenden Maßnahmen bei der Arbeitsmarktpolitik haben die Problematik der Langzeitarbeitslosigkeit erst in ihre Komplexität und Größendimension hineinwachsen lassen. Wer zu lange den Kopf in den Sand steckt, knirscht eben irgendwann mit den Zähnen… Warum diese Einschätzung?
Schon seit mehreren Jahrzehnten hat sich die Psychologische Arbeitslosenforschung in vielen nationalen und internationalen empirischen Studien mit den belastenden Auswirkungen von Arbeitslosigkeit beschäftigt. Dabei hat sich klar gezeigt, dass Arbeitslosigkeit das Risiko für das Auftreten spezifischer Belastungswirkungen deutlich steigert. In aller Kürze: Der Verlust der Arbeit führt zu einem schleichenden Zerfall von Zeitstrukturen. Die Befähigung zur Zeitplanung, zur effizienten Zeitverwendung und zur Zeitdisziplin nimmt ab. Arbeitslosigkeit verhindert die Erfahrung eigener Nützlichkeit und Handlungskompetenz und lässt so Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeitserwartungen erodieren. Die mit dem Arbeitsverlust einhergehende Reduzierung des verfügbaren Einkommens führt zu massiven Finanz- und Überschuldungsproblemen und verengt für die ganze Familie den sozialen Lebensraum. Arbeitslosigkeit nimmt dem Betroffenen seine beruflichen Sozialkontakte und damit ein wichtiges Anwendungsfeld für Sozialkompetenzen. Erfolgt zudem ein (wahrscheinlicher) Rückzug aus dem privaten Kontaktfeld, verschärft sich die Verkümmerung der sozialen Qualifikationen. Familienstrukturen werden zerstört, wenn die Partner mit der neuen Rollenaufteilung (ganztägige Anwesenheit des Partners!) im häuslichen Umfeld scheitern. Und gut belegt ist schließlich auch, dass Arbeitslose - trotz geringerer objektiver Belastungen - eine schlechtere physische und psychische Gesundheit aufweisen. Die Länge der Arbeitslosigkeit ist dabei nur ein Einflussfaktor. Die Probleme sind damit keineswegs nur auf Langzeitarbeitslose beschränkt.
Diese Befunde sind schon seit langem bekannt. Wer genau hinschauen wollte, der musste kein Prognosegenie sein, um zu vermuten, dass sich diese Belastungswirkungen über kurz oder lang zu massiven Vermittlungshemmnissen verdichten mussten. Nun ist es wenig kreativ, über vergossene Milch zu klagen. Das Kind ist nun einmal in den Brunnen gefallen.
Jetzt versucht man über langwierige, kostenintensive Programme wenigstens einen Teil der Betroffenen wieder „nach oben zu ziehen“. Gut so! Aber man sollte aus diesen Brunnenstürzen die Lehren für die Zukunft ziehen und den Brunnen massiv vergittern. Dies verringert zukünftig die Problemhäufigkeit und -intensität bei längerer Arbeitslosigkeit.
Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen müssen also um einen Vorsorgebaustein ergänzt werden. Wie muss dieser aussehen?
Generell sollten Mitarbeiter direkt nach einem Arbeitsplatzverlust eng und professionell begleitet werden. In der Sprache der Psychologen durchlaufen sie ein „kritisches Lebensereignis“, das eine intensive psychische Anpassungsleistung abfordert. Es kann ohne belastbare Bewältigungsstrategien schnell überfordernd sein. Schockstarre, depressive Tendenzen und Rückzug in die Inaktivität sind bei entsprechender Persönlichkeitsdisposition die Folgen. Eine psychologische Begleitung kann aus Kostengründen durchaus in einem Gruppensetting stattfinden. Es bietet den Arbeitslosen zudem die Chance auf gegenseitige Beratung/Unterstützung und auf die psychisch erleichternde Erkenntnis, dass sie mit ihrem Schicksal nicht allein sind. Ziel in dieser frühen Phase muss weiterhin die Erhaltung eines hohen Aktivitätsniveaus zur Planung und Gestaltung der weiteren beruflichen Zukunft sein.
Dazu gehört die Erarbeitung eines guten Know-how in Bewerbungsfragen, eine Facette die die Arbeitsagenturen bereits sehr gut abdecken. Sobald abzusehen ist, dass eine schnelle Anschlussbeschäftigung nicht realisierbar ist, also etwa nach 3-4 Monaten, müssen intensivere Betreuungsmaßnahmen einsetzen. Dazu gehört in einem ersten Modul eine detaillierte Finanzberatung. Es zeichnet sich nun für unbestimmte Zeit ein geringeres Haushaltseinkommen ab. Die Finanzstrukturen und das Ausgabeverhalten der gesamten Familie müssen analysiert und auf die neue Situation hin justiert werden - proaktiv, ehe die Schuldenfalle zuschnappt. In einem zweiten Modul gilt es, eine möglichst geregelte Zeitstruktur zu erhalten. Dies gelingt, wenn sich die Betroffenen aktiv alternativen Aufgaben stellen (z.B. Weiterbildung, ehrenamtliche Tätigkeit, neue Hobbies, Realisierung privater Großprojekte an der Immobilie). Ohne Beratung und gezielte Motivation ergreifen Arbeitslose diese naheliegenden Optionen oft nicht, verharren in Inaktivität und bauen Schwellenängste auf. Zielvereinbarungen mit externen Coaches wären ein probates Mittel. Solche alternativen Zeitverwendungen stabilisieren auch das Selbstwertgefühl und verhindern den Rückzug aus den familienexternen Sozialkontakten.
Ergänzend sind in einem dritten Modul zur psychischen Stabilisierung Angebote nötig, bei denen in einem Gruppensetting der Verlust des Arbeitsplatzes und die momentane eigene Situation psychisch aufgearbeitet werden kann. Das Methodenspektrum von Psychologen und Sozialpädagogen ist hier gefragt.
Zur Vorbeugung gegen eine signifikante Verschlechterung des Gesundheitszustandes und Etablierung schädlicher Verhaltensmuster während der Arbeitslosigkeit bietet sich in einem vierten Modul ein intensiver Einsatz all der Bausteine an, die aus dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement - oftmals in Zusammenarbeit mit Krankenkassen - im Rahmen der Gesundheitsaufklärung und Krankheitsprophylaxe gut bekannt sind (z.B. gesundes Essen, Motivation zur Bewegung, Aufklärung über Alkohol und Nikotin).
Final stellt sich die Frage nach Zuständigkeit und Finanzierung dieses Maßnahmenbündels. Die zentrale inhaltliche, organisatorische und finanzielle Zuständigkeit hätten aufgrund ihres gesetzlichen Auftrags zur „Verkürzung der Dauer der Arbeitslosigkeit“ (§ 1 SGB III) die Arbeitsagenturen. In der Pflicht sind aber auch die freisetzenden Unternehmen. Denn zum einen gebietet es die „Fürsorgepflicht“ als arbeitsvertragliche Nebenpflicht, einen Mitarbeiter nicht gänzlich unvorbereitet und unbegleitet in die „Lebenskrise Arbeitslosigkeit“ zu entlassen. Eine Outplacement-Beratung als „letzte Sozialleistung“ sollte Standard werden. Zum anderen haben Betriebe durch ihre Freisetzungsentscheidung die Kosten der Arbeitslosigkeit auf die Allgemeinheit externalisiert. Allerdings muss ein Kostenbeitrag der Arbeitgeber überschaubar bleiben, da sie ja bereits über die Arbeitslosenversicherung in die Kasse der Arbeitsagentur eingezahlt haben. Als zusätzliche Finanzierungsquelle kämen insbesondere die Umwidmung kleiner Teile der Abfindungs- und Sozialplanzahlungen in Betracht. Charme hätte auch der gemeinsame Unterhalt von überbetrieblichen Outplacement-Zentren durch viele Unternehmen. Deren Finanzierung erfolgt nach dem Versicherungsprinzip über die Entrichtung eines monatlichen Geldbetrags je beschäftigtem Mitarbeiter. Dafür erwirbt das einzelne Unternehmen das Gegenrecht, im Falle einer Freisetzung, die Dienste des Zentrums für den Mitarbeiter in Anspruch nehmen zu dürfen.
Fazit: Es ist Zeit für ein flächendeckendes Outplacement-Konzept für alle Mitarbeiter zur Prophylaxe gegen Langzeitarbeitslosigkeit. In Zeiten des demografischen Wandels und sich verknappender Arbeitskräfte, kann es sich Deutschland schon aus rein ökonomischen Gründen nicht leisten, neben den Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss und den älteren Mitarbeitern, die den vorgezogenen Ruhestand wählen, auch noch eine substanzielle Anzahl an Menschen an eine verkrustete Langzeitarbeitslosigkeit zu verlieren. Und aus ethischer Perspektive gebietet sich sowieso, das Schicksal einer Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern.
Klaus Watzka
klaus.watzka@eah-jena.de
Dr. Klaus Watzka ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaft, insbesondere Personalwirtschaft an der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena
Prof. Dr. Klaus Watzka
Foto: privat
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Politik, Psychologie, Wirtschaft
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