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Wissenschaft
Tübingen, 26.09.2018. Senckenberg-Wissenschaftlerin Katerina Harvati widerlegt gemeinsam mit ihrem Team der Universität Tübingen und in enger Zusammenarbeit mit dem Naturhistorischen Museum Basel die bisherige Annahme, dass sich Neandertaler bei dem Einsatz ihrer Hände hauptsächlich auf ihre Kraft verlassen hätten. In einer heute im Fachjournal „Science Advances“ veröffentlichten Studie zeigen sie, dass Neandertaler ihren Alltag fast ausschließlich mit Präzisionsgriffen bewältigten.
Die vor 400.000 bis 40.000 Jahre lebenden Neandertaler (Homo neanderthalensis) werden häufig als körperlich starke, aber eher unbeholfene Frühmenschen porträtiert, die bei der Herstellung und beim Hantieren mit Werkzeugen überwiegend mit Kraft agierten. Im Gegensatz dazu nahm man an, dass das fortschrittlichere Verhaltensrepertoire des modernen Menschen sich in der vermehrten Anwendung des Präzisionsgriffes widerspiegelt.
„Die robuste Anatomie ihrer Handknochen hat bisher zur Annahme geführt, dass Neandertaler ihre täglichen Aufgaben hauptsächlich mit dem Einsatz von Stärke erledigten, auch wenn der archäologische Fundbestand zunehmend auf fortschrittliches kulturelles Verhalten hinweist“, erklärt Prof. Dr. Katerina Harvati vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen.
Das Team um Harvati hat nun mit einer innovativen Methode gezeigt, dass die vermeintlich groben Verwandten des Menschen ihren Alltag entgegen des bisherigen Kenntnisstandes vielmehr fast ausschließlich mit „Fingerspitzengefühl“ meisterten.
„Wir haben in unserer Studie erstmalig erfolgreich die erhaltenen anatomischen Hinweise am Skelettmaterial fossiler Menschenfunde direkt mit den zugehörigen archäologischen Funden verknüpft, um das Verhalten ausgestorbener Frühmenschenformen vollständiger zu verstehen“, erläutert Dr. Alexandros-Fotios Karakostis, Erstautor der Studie.
Die Untersuchungen zeigen, dass Neandertaler bei ihren händisch ausgeführten Tätigkeiten systematisch „Präzisionsgriffe“ einsetzten. Im Gegensatz zum „Kraftgriff“, bei dem die gesamte Handinnenfläche einschließlich aller Finger und des Daumens zugreift, erfolgt beim „Präzisionsgriff“ die Haltung und Führung von Gegenständen im Wesentlichen durch die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger.
„Da Muskeln und Sehnen nicht fossil überliefert werden, haben wir die Abdrücke der ‚Enthesen’ oder ‚Muskelansatzmarken‘, die Stellen an denen Muskeln und Sehnen mit dem Knochen verbunden sind, untersucht“, erläutert Harvati. Dabei setzte das Tübinger und Baseler Team eine neue Methode ein, bei der nicht einzelne Muskelansatzmarken, sondern ganze Gruppen von Muskelansatzmarken dreidimensional vermessen und analysiert werden.
Um die Ergebnisse an den untersuchten Neandertaler-Handknochen zu überprüfen, wurden diese mit Stichproben von modernen Menschen aus der „Basel Spitalfriedhof“-Sammlung des Naturhistorischen Museums Basel verglichen. „Diese einmalige Sammlung aus dem 19. Jahrhundert bietet uns identifizierte Skelette mit Informationen zu den Lebensumständen und Berufen der Verstorbenen“, erläutert Dr. Gerhard Hotz vom Naturhistorischen Museum Basel und fährt fort: „Wenn wir nun beispielsweise die Hand eines Schmiedes untersuchen, können wir an den Muskelansatzstellen zeigen, dass dieser in seinem Alltag häufig ‚Kraftgriffe’ verwendet hat.“
Keines der untersuchten Neandertaler-Handskelette wies Belege für den dauerhaften Einsatz von Kraftgriffen auf. „Wir lehnen daher die gängige Ansicht des tollpatschigen, kraftvollen Neandertalers ab. Wie moderne Menschen waren Neandertaler kompetente Werkzeugmacher und -nutzer, die bei ihren täglichen Aktivitäten überwiegend präzise Hand- und Fingerbewegungen vollführten“, fasst Harvati zusammen. Im Gegensatz dazu weisen die Handknochen des frühen Homo sapiens sowohl Spuren der systematischen Anwendung von Präzisions- als auch Kraftgriffen auf und untermauern die Hypothese, dass sich die Arbeitsteilung unserer Vorfahren zum ersten Mal im Jungpaläolithikum intensivierte.
Die Natur mit ihrer unendlichen Vielfalt an Lebensformen zu erforschen und zu verstehen, um sie als Lebensgrundlage für zukünftige Generationen erhalten und nachhaltig nutzen zu können – dafür arbeitet die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung seit nunmehr 200 Jahren. Diese integrative „Geobiodiversitätsforschung“ sowie die Vermittlung von Forschung und Wissenschaft sind die Aufgaben Senckenbergs. Drei Naturmuseen in Frankfurt, Görlitz und Dresden zeigen die Vielfalt des Lebens und die Entwicklung der Erde über Jahrmillionen. Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ist ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main wird von der Stadt Frankfurt am Main sowie vielen weiteren Partnern gefördert. Mehr Informationen unter www.senckenberg.de.
Prof. Dr. Katerina Harvati
Senckenberg Center for Human Evolution and Paleoecology
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Tel.: +49-(0)7071-29-76516
katerina.harvati@senckenberg.de
F. A. Karakostis, G. Hotz, V. Tourloukis, K. Harvati (2018): Evidence for precision grasping in Neanderthal daily activities. Science Advances.
Muskelansatzmarken für Kraftgriffe (pink) und Präzisionsgriffe (blau).
Senckenberg
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Geowissenschaften, Geschichte / Archäologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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