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19.08.2019 13:06

Traumata verändern langfristig die Wahrnehmung

Johannes Seiler Dezernat 8 - Hochschulkommunikation
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

    Menschen mit Misshandlungserfahrungen in ihrer Kindheit verfügen später als Erwachsene über eine veränderte Reizwahrnehmung. Das haben Wissenschaftler der Medizinischen Psychologie an der Universität Bonn herausgefunden. Traumatisierte Personen empfanden Berührungsreize weniger beruhigend als Menschen ohne Traumata. Außerdem hielten sie zu unbekannten Personen eine größere soziale Distanz. Darüber hinaus entdeckten die Forscher Veränderungen in der Aktivierung bestimmter Gehirnareale. Die Ergebnisse eröffnen möglicherweise Optionen für neue Therapien. Sie sind nun in „The American Journal of Psychiatry“ veröffentlicht.

    Wer in der Kindheit gedemütigt, geschlagen oder sexuell missbraucht wurde, hat im Erwachsenenalter häufiger mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angstattacken zu kämpfen als Menschen, denen diese Erfahrungen in jungen Jahren erspart blieben. Das zeigen zahlreiche Studien. Doch was sind die Gründe für diese größere Anfälligkeit? Führen Gewalterfahrungen als Kind möglicherweise zu einer dauerhaft veränderten Wahrnehmung von sozialen Reizen? Diese Frage haben Wissenschaftler der Abteilung für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Bonn (UKB) mit ihren Kollegen der Ruhr-Universität Bochum und aus Chengdu (China) untersucht.

    Die Forscher befragten insgesamt 120 Personen zu ihren Gewalterfahrungen und Begleiterkrankungen. Davon wurden insgesamt 92 Erwachsene (64 Frauen) in die Studie einbezogen. Voraussetzung war, dass die Teilnehmer weder unter neurologischen Erkrankungen litten noch Medikamente einnahmen, um diese Einflüsse auszuschließen. Die sensorische Wahrnehmung testeten die Wissenschaftler, indem sie mit einer Hand entweder in einer schnellen oder einer langsameren Bewegung über die nackte Haut der Schienbeine strichen. „Berührungen sind von zentraler Bedeutung, weil sie die Gehirnentwicklung beeinflussen, ein Gefühl für den eigenen Körper vermitteln und als Stressregulator dienen“, sagt Dr. Dirk Scheele von der Abteilung für Medizinische Psychologie des UKB.

    Nervenfasern sind auf unterschiedliche Reize spezialisiert

    Zwischenmenschliche Berührungen werden über zwei unterschiedliche Nervenfasern in der Haut vermittelt: Aß-Fasern übertragen den sensorischen Reiz und sprechen primär auf schnellere Berührungen an, C-taktile Fasern hingegen übertragen das emotionale Wohlgefühl und werden primär durch langsame Berührungen aktiviert, erläutert Erstautorin Ayline Maier. Die Testpersonen lagen während der Experimente im Hirnscanner und konnten den Experimentator nicht sehen, der die Bewegungen vollführte. Dessen Hände steckten in Baumwollhandschuhen, um direkten Hautkontakt zu vermeiden. Der funktionelle Magnetresonanztomograph zeichnete die Aktivität der Gehirnareale auf. Nach jedem Messdurchgang wurden die Probanden befragt, wie beruhigend die Berührungen empfunden wurden.

    Je ausgeprägter die Misshandlungserfahrungen während der Kindheit waren, umso stärker reagierten zwei Gehirnregionen auf schnelle Berührungen. Der somatosensorische Kortex ist im Gehirn in etwa über dem Ohr lokalisiert und registriert, wo eine Berührung stattfindet. „Dieses Areal kodiert haptische Empfindungen und ist an der Vorbereitung und Initiierung von Körperbewegung beteiligt – zum Beispiel daran, das berührte Bein wegzuziehen“, sagt Maier. Die posteriore Inselrinde ist ein tief im Gehirn hinter der Schläfe liegendes Areal, das für jegliche Körperwahrnehmung wie Berührung, Hunger, Durst und Schmerz zuständig ist. „Bei traumatisierten Menschen ist die Aktivität bei schnellen Berührungen in diesen beiden Arealen deutlich erhöht“, fasst Scheele das Ergebnis zusammen.

    Dagegen war der Hippocampus bei langsamen Berührungen deutlich schwächer aktiviert, wenn traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht worden waren. Die einem Seepferdchen ähnliche Gehirnstruktur dient der Gedächtnisbildung und speichert damit auch negative und positive Assoziationen von Reizen ab. „Konkret könnte die Aktivität des Hippocampus widerspiegeln, wie belohnend eine Berührung im Experiment empfunden wurde“, erläutert Maier. Stärker traumatisierte Teilnehmer könnten insbesondere eine langsame und damit emotionaler aufgeladene Berührung als weniger belohnend empfinden.

    Darüber hinaus untersuchten die Wissenschaftler die soziale Distanz. Die Teilnehmer wurden gebeten, auf einen ihnen unbekannten Menschen zuzugehen und stehen zu bleiben, wenn die Distanz gerade noch als angenehm empfunden wurde. Er war bei stärker traumatisierten Menschen deutlich größer – im Schnitt um zwölf Zentimeter.

    Potenzial für neue Therapien

    „Die Resultate zeigen, dass bei Menschen mit traumatischen Erlebnissen in der Kindheit die Wahrnehmung und die sensorische Verarbeitung verändert sind“, fasst Scheele die Ergebnisse zusammen. Berührungen wirken weniger beruhigend als bei Personen ohne Misshandlungserfahrung. Wie Kontrolluntersuchungen zeigen, seien dafür nicht die Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angstattacken verantwortlich, sondern die Traumatisierung selbst. „Dieses Ergebnis eröffnet jedoch möglicherweise auch Chancen für neue Therapien: Ergänzende körperbasierte Therapien in einem sicheren Umfeld könnten ein Umlernen dieser Reizverarbeitung ermöglichen“, vermutet Maier. Doch dieses Potenzial müssten erst noch weitere Studien genauer untersuchen.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Dirk Scheele
    Abteilung für Medizinische Psychologie
    Universitätsklinikum Bonn
    Tel. +49-228-28711151
    E-Mail: Dirk.Scheele@ukbonn.de


    Originalpublikation:

    Ayline Maier, Caroline Gieling, Luca Heinen-Ludwig, Vlad Stefan, Johannes Schultz, Onur Güntürkün, Benjamin Becker, René Hurlemann and Dirk Scheele: Association of Childhood Maltreatment With Interpersonal Distance and Social Touch Preferences in Adulthood, The American Journal of Psychiatry, DOI: 10.1176/appi.ajp.2019.19020212


    Bilder

    Der funktionelle Magnetresonanztomograph zeichnet die Aktivität der Gehirnareale auf (von links): Mitjan Morr (hier nur mit Füßen zu sehen), Ayline Maier und Dr. Dirk Scheele.
    Der funktionelle Magnetresonanztomograph zeichnet die Aktivität der Gehirnareale auf (von links): Mi ...
    (c) Foto: Rolf Müller/UKB
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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