idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
24.10.2019 10:43

Haifischflossen und Eulentröpfchen

Carolin Hoffrogge Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

    Flüssigkristalltropfen sind Alleskönner

    Wenn wir an Schwimmer denken, haben wir gewöhnlich kraulende Olympioniken, gegen den Strom wandernde Lachse oder Haie auf Jagd im Kopf - und nicht etwa die häufigsten Schwimmer der Natur: Einzeller. Das können etwa Algen sein, die zum Licht schwimmen, oder Spermien, die zielsicher zur Eizelle steuern. Aus der Perspektive des Physikers sind Zellen Maschinen, und diese müssen den festen Gesetzen der Physik und Chemie gehorchen. Können wir also lebensecht schwimmende Mikromaschinen mit reinen Mitteln der Physik nachstellen, ohne auf Hilfsmittel der Biologie zurückzugreifen? Ein Team um Physikerin Corinna Maaß aus der Forschungsgruppe „Aktive weiche Materie“ vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation hat sich zum Ziel gesetzt, weiche Modellschwimmer aus rein flüssigen Komponenten zu konstruieren. Dabei gelang es ihnen, stabile, autonom schwimmende und lenkbare Tropfen mit eingeschlossenen ‚Gepäckfächern‘ zu erzeugen. Ihre Ergebnisse präsentieren sie nun in der neuesten Ausgabe des Journals Physical Review Letters.

    Reale Zellen ähneln weichen Flüssigkeitsblasen

    Für eigenständig schwimmende künstliche Zellen lassen sich spannende neue Anwendungen finden: Zum Beispiel könnten sie medizinische Wirkstoffe eigenständig zu einem Krankheitsherd im menschlichen Körper transportieren und dort absorbiert werden. Darüber hinaus tragen sie zum Grundverständnis von biologischen Schwimmern bei. Mit einem maximal vereinfachten ‘Minimalschwimmer’ können Grundlagenforscher wie die Hauptautorin der Studie Corinna Maaß testen, welche Mechanismen und Komponenten in einer lebenden Zelle für eine bestimmte Funktion zwingend erforderlich sind. "Unser idealer Modellschwimmer, sozusagen die künstliche Urzelle sollte mehrere Voraussetzungen erfüllen: sie muss autonom schwimmen, robuste "Gepäckfächer" für den Transport von Wirkstoffen oder biochemischen Reagenzien bereithalten, und sie muss steuerbar sein, zum Beispiel an einen bestimmten Ort gelenkt werden und dort ihre Fracht freigeben.“, so Maaß. Diesen idealen Modellschwimmer haben Maaß und ihre Mitarbeiter Babak Vajdi Hokmabad und Kyle Baldwin mit einem verblüffend einfachen System gebaut: Sie stellten Öltropfen her die einen oder mehrere Wasserkerne enthalten, sogenannte aktive Doppelemulsionen. Solche Tropfen können spontan losschwimmen, während sie sich langsam in einer konzentrierten Tensid- oder Seifenlösung auflösen - die Seife ist gewissermaßen der Treibstoff. Ein grundsätzliches Problem bei Emulsionen ist, dass sie instabil sind, also zum Entmischen neigen - man kennt das aus dem Alltag, wenn sich in der Salatsauce das Öl absetzt. Analog dazu neigen Doppelemulsionen zum Platzen, sowie sie losschwimmen, weil ihr Kern gegen ihre Außenwand gedrängt wird.

    Stabile Flüssigkristalltropfen

    Dieses Platzen konnten die MPIDS-Forscher in ihrer Studie durch einen Trick verhindern. Dafür benutzen sie ein flüssigkristallines Öl. Obwohl Flüssigkristalle fließen wie ein gewöhnliches Öl, wollen ihre Moleküle eine bestimmte ‘kristalline’ Ordnung oder Ausrichtung einnehmen, die dazu führt, dass ein Wasserkern in einem solchen Tropfen vorzugsweise in der Mitte sitzt. Wird der Kern beim Schwimmen verschoben und damit diese Ordnung gestört, entsteht eine Kraft, die ihn wieder ein wenig Richtung Mitte drängt. Computersimulationen des MPIDS-Kollegen Christian Bahr haben gezeigt, dass diese Kraft tatsächlich ausreicht, um den Kern von der Tropfenwand abzudrängen. Experimente der Gruppe bestätigen, dass nur Flüssigkristalltropfen stabil bleiben – solche aus gewöhnlichen Ölen platzen, sobald sie losschwimmen.

    Eulenaugen und Zickzackkurs

    Flüssigkristalltropfen dagegen überleben stundenlang, bis sie sich zu einer sehr dünnwandigen Blase aufgelöst haben, die dann platzt. Ihre Bewegung ist faszinierend – sie schwimmen nicht einfach geradeaus los, sondern in einer komplizierten Zickzackbewegung, die an Haifischflossen erinnert. "Und auch das können wir auf die Kombination zweier einfacher Grundprinzipien zurückführen. Wenn der Kern schief zur Bewegungsrichtung liegt, bekommt der Schwimmer einen Drall, der ihn auf eine Kurve zwingt. Dabei nähert er sich aber seiner eigenen Spur, wo er den Treibstoff schon verbraucht hat und die ihn damit wieder abstößt. Der Drall kehrt sich um und er schwimmt eine Kurve in die andere Richtung.", betont Babak Vajdi Hokmabad.

    Außerdem konnten die Forscher die Zickzackbewegung sogar abschalten, indem sie Tropfen mit zwei eingeschlossenen Kernen erzeugten. Diese können sich nicht schief, sondern nur symmetrisch um die Tropfenachse anordnen - damit gibt es keinen Drall und der Tropfen schwimmt gerade. „Unter dem Polarisationsmikroskop sehen diese Doppelkerntropfen ein bisschen wie Eulenaugen aus.“ findet Kyle Baldwin. Die Forscher fanden noch mehr Möglichkeiten, die Tropfen zu lenken - zum Beispiel schwimmen sie entlang von Wänden, sodass man ihnen eine ‘Tropfeneisenbahn’ bauen könnte, und suchen eigenständig Regionen mit höherer Tensidkonzentration.

    Flexibel und steuerbar

    Doppelemulsionen sind damit exzellente Modellschwimmer – sie sind etwa so groß, schnell und deformierbar wie biologische Zellen, kommen völlig ohne komplizierte Biochemie aus, und ihr Verhalten wird durch fundamentale und obendrein sehr elegante physikalische Gegebenheiten wie spontane Symmetriebrüche vollständig erklärt – darüber hinaus sind sie durch Kontrolle dieser Mechanismen steuerbar. „Der große Vorteil der Doppelemulsionen ist, dass wir stabil ein Objekt, also den Kern, der nicht zum Schwimmen benutzt oder gar aufgebraucht wird, einschließen können, – damit könnten wir sowohl chemische Reagenzien als auch biologische Bausteine wie Proteine und Enzyme transportieren, und damit in Zukunft sogar lebende Objekte nachbauen," sagt Physikerin Maaß abschließend.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Corinna Maaß


    Originalpublikation:

    Babak Vajdi Hokmabad, Kyle A. Baldwin, Carsten Krüger, Christian Bahr, and Corinna C. Maass, "Topological stabilization and dynamics of self-propelling nematic shells", Physical Review Letters 123 (2019) 178003


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Physik / Astronomie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).