idw - Informationsdienst
Wissenschaft
Der Ursprung von Schildkröten gilt als eine der am häufigsten geführten Debatten innerhalb der Evolutionsbiologie. In einer kürzlich im Fachjournal „Nature Scientific Reports“ veröffentlichten Studie hat Senckenberger Ingmar Werneburg mit einem internationalen Team von Forschenden bestehende Hypothesen widerlegt und neues Licht auf die Evolution der Schädelarchitektur geworfen. Die Ergebnisse zeigen eine enge Verknüpfung der Evolution des Schädels und des hochflexiblen Halses bei den Panzerträgern.
Neben ihren Panzern gehören die flexiblen Hälse und kleinen Köpfe zu den charakteristischen Merkmalen von Schildkröten. „Auch wenn Schildkröten zu den Reptilien zählen, unterscheidet sich ihr Schädel stark von dem anderer Kriechtiere – dies erschwert, zusammen mit dem einzigartigen Panzerskelett, die Beurteilung ihres stammesgeschichtlichen Ursprungs“, erklärt PD Dr. Ingmar Werneburg vom ‚Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment (SHEP)‘ an der Universität Tübingen.
Fossilien lassen darauf schließen, dass eine Reihe von Modifikationen während der Evolution der Schildkröten dazu geführt hat, dass sich der zunächst in sich bewegliche Schädel zu einer unbeweglichen Struktur umbildete. Dabei schlossen sich auch die Schläfenfenster in der Wangenregion und formten so den sogenannten anapsiden Schädel, wie er sonst bei keinen anderen lebenden Reptilien vorhanden ist.
Gleichzeitig entwickelte sich eine einzigartige, mit einem Seilzug vergleichbare Anordnung der Kiefermuskulatur. „Bislang wurde vermutet, dass diese Modifikationen bei Schildkröten zu einer Steigerung der Beißkraft geführt haben und es sich bei dieser Entwicklung um eine funktionelle Anpassung an ein verändertes Fressverhalten handelte“, ergänzt Werneburg.
Diese Hypothese wurde nun erstmals unter biomechanischen Gesichtspunkten von dem internationalen Forschungsteam um Werneburg getestet. Der Tübinger Wissenschaftler hierzu: „Unsere Untersuchungen ergaben, dass die Beißkraft durch diese Änderungen erstaunlicherweise nicht gesteigert wird, weder durch die Unbeweglichkeit des Schädels noch durch die Neuanordnung der Kiefermuskulatur.“ Die Analysen zeigten jedoch, dass die evolutionären Neuerungen zu einer optimierten Schädelstruktur geführt haben. Diese hält stärkeren Belastungen stand und kommt dabei mit weniger Knochenmaterial aus.
„Wir kombinierten unsere neuen Erkenntnisse mit dem bereits vorhandenen paläontologischen und anatomischen Wissen, wodurch ein neues Szenario vorstellbar wird“, erläutert Werneburg. Entscheidend in diesem Szenario sei eine enge Verknüpfung der Evolution des Schädels und des hochflexiblen Halses: „Wir nehmen an, dass der Schädel moderner Schildkröten das Resultat eines komplexen Prozesses ist, der seit der Entstehung des Panzers abläuft.“ Einerseits ermöglicht die Halsbewegung eine allgemeine Steigerung der Mobilität der Tiere, die so ein Gegenstück zu dem ansonsten starren Körper bietet. Andererseits dient die Möglichkeit, den Hals einzuziehen, als zusätzlicher Schutzmechanismus in Gefahrensituationen.
Die Modifikationen am Schildkrötenschädel könnten zudem nicht nur zu einer vorteilhafteren Belastungsverteilung geführt, sondern gleichzeitig den Weg für die Entstehung neuer Arten ermöglicht haben: „Das evolutionäre Potential für eine neuartige Schädelarchitektur und längere flexiblere Hälse ermöglichte die Entwicklung einer größeren Diversität der Schildkröten während und nach dem Jura“, schließt Werneburg.
PD Dr. Ingmar Werneburg
Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment
an der Universität Tübingen
Tel. 07071- 2973068
ingmar.werneburg@senckenberg.de
Ferreira, G.S., Lautenschlager, S., Evers, S.W. et al. Feeding biomechanics suggests progressive correlation of skull architecture and neck evolution in turtles. Sci Rep 10, 5505 (2020). https://doi.org/10.1038/s41598-020-62179-5
Lebendrekonstruktion der Schildkröte Proganochelys quenstedti aus dem Naturkundemuseum Stuttgart.
I. Werneburg
None
Der Schädel von Schildkröten unterscheidet sich stark von dem anderer Reptilien.
I. Werneburg
None
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Geowissenschaften
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).