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Benthos-Organismen reagieren auf die dynamische Meereisentwickung
Veränderungen in der Meereisbedeckung der Antarktis führten im letzten Vierteljahrhundert zu bedeutenden Veränderungen des Lebens am Meeresboden. Wie Biologen des Alfred-Wegener-Instituts in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Communications berichteten, ist die benthische Biomasse auf dem Kontinentalschelf des nordöstlichen Weddellmeeres zwischen den Jahren 1988 und 2014 um zwei Drittel zurückgegangen. Auch die Artenzusammensetzung hat sich drastisch verändert und die Produktivität des Ökosystems ist zurückgegangen. Die Periode fällt mit einer signifikanten Zunahme der Meereisbedeckung in dieser Region zusammen, die im Jahr 2014 ihren Höhepunkt erreichte.
Die Antarktis beherbergt eine einzigartige bodenlebende Tierwelt, die ungewöhnlich artenreich ist und viele Gruppen von Organismen aufweist, die in anderen Meeresgebieten selten sind oder fehlen. Räuber wie beispielsweise große Krabben kommen hier nicht vor, so dass sich Schwämme oder Gorgonien (Hornkorallen) in großer Dichte entwickeln können, die sich anderswo vor den Fressfeinden im Sediment verstecken müssen. Diese Arten können an einigen Stellen auf dem antarktischen Festlandsockel den gesamten Meeresboden bedecken. Sie sind an extreme Kälte und Nahrungsmittelknappheit angepasst, wachsen langsam und erreichen so ungewöhnliche Größen und Alter. „Wegen des langsamen Wachstums sind Veränderungen in der Struktur und Zusammensetzung der antarktischen Boden-Lebensgemeinschaften äußerst schwer zu erkennen“, erläutert Prof. Claudio Richter, Biologe am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Daher war es bisher unmöglich vorherzusagen, wie die benthischen Gemeinschaften der Antarktis auf klimabedingte Veränderungen in ihrer Umwelt reagieren“, so der Studienautor, der eine Professur für Meerestierökologie an der Universität Bremen hat.
In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Communications zeigen die AWI-Biologen, dass die benthische Biomasse auf dem Kontinentalschelf des antarktischen Weddellmeeres über einen Zeitraum von 26 Jahren zurückgegangen ist. Das Team begann in den 1980er Jahren mit der Entnahme von Meeresbodenproben, als das Forschungsschiff Polarstern das Gebiet zum ersten Mal besuchte. Einer der Autoren, Dieter Gerdes, gehörte zu den Pionieren. Er entwickelte extra für diese Forschung ein eigenes Probennahmegerät: Den zwei Tonnen schweren Multigreifer, der bei jedem Einsatz neun Meeresbodenproben gleichzeitig entnehmen kann. Zwischen den Jahren 1988 und 2014 kam dieses riesige Instrument insgesamt 59 Mal zum Einsatz im Untersuchungsgebiet Kapp Norvegia-Auståsen, 81 Meilen südwestlich der deutschen Antarktis-Forschungsstation Neumayer. Auf acht Polarstern-Expeditionen haben Forschende so über 300 Meeresbodenproben entnommen, 45 Tonnen Sediment gesiebt und Zehntausende von Lebewesen sortiert und gezählt. „Schmerzende Gliedmaßen und schlammbedeckte Körper auf dem teils gefrorenen Arbeitsdeck sowie schmerzende Augen hinter den Mikroskopen waren die Nebenwirkungen unserer Langzeitstudie“, berichtet Claudio Richter augenzwinkernd von den anspruchsvollen Arbeitsumständen auf den Antarktis-Expeditionen.
Der Erstautor der Studie, Santiago Pineda-Metz, ein argentinischer Student von der Universidad de Magallanes in Chile, widmete einen guten Teil seiner Doktorarbeit an der Universität in Bremen, um die Statistiken für die Auswertung der sehr diversen Daten zu entwickeln. Er verglich die eigenen Erhebungen zusätzlich mit Daten aus weltweiten Archiven, um die biologischen Ergebnisse mit Veränderungen in der antarktischen Umwelt während des Untersuchungszeitraums in Beziehung zu setzen. Die Forscher analysierten beispielsweise, wie sich über den Meeresgrund schrammende Eisberge auf die Bodenlebewesen auswirken, welchen Einfluss kollabierende Schelfeise haben und wie sich die Meereisbedeckung mit ihrer Schneeauflage sowie das Auftreten von Eisbergen in einer „weißeren Antarktis“ auf die benthische Fauna und die Produktivität des Ökosystems auswirken. Ihre Ergebnisse: Eisberge beeinflussen die Produktivität negativ, ihr zahlenmäßiges Vorkommen zeigte im Untersuchungszeitraum jedoch keine Veränderungen. Die zunehmende Meereisbedeckung mit mehr Schnee wirkte sich hingegen negativ aus.
„Wir hatten immer vermutet, dass Meereis der Schlüssel sein könnte“, sagt Projektleiter Claudio Richter. „Die Antarktis unterscheidet sich sehr von der Arktis: In der Arktis verschwindet das Meereis. Aber über den größten Teil der Antarktis hat das Meereis bis vor kurzem zugenommen. Mehr schneebedeckte Eisschollen bedeuten: Weniger Licht, das das Wachstum von Kleinalgen (Phytoplankton) an der Wasseroberfläche unterstützt, und weniger abgestorbenes Phytoplankton, das auf den Boden sinkt. In Folge einer ‚weißer werdenden Antarktis‘ kann es dazu kommen, dass die bodenlebenden Tiere hungern.“ Pineda-Metz, Gerdes und Richter konnten genau diesen Trend nachweisen: Sie fanden einen deutlichen Rückgang sowohl der Häufigkeit als auch der Biomasse des antarktischen Benthos im Untersuchungsgebiet. Außerdem stellten sie fest, dass sich die Artengemeinschaft von Suspensionsfressern zu Ablagerungsfressern verschoben hat.
Das Jahr 2014 war sowohl das Ende der Datenerhebung für die Studie als auch ein möglicher Wendepunkt in der antarktischen Meereisbedeckung, die inzwischen vom damaligen Maximum auf das Niveau der 1980er Jahre gesunken ist. Das AWI-Team bereitet sich auf eine Expedition Anfang 2021 vor, um herauszufinden, ob der Rückgang der Meereisbedeckung zu einer Umkehrung des Effekts auf die Bodenlebewesen geführt hat. Sie planen, frühere Probennahmestationen erneut zu besuchen, um herauszufinden, ob sich das Benthos unter den jüngsten eisarmen Bedingungen erholen konnte. „Die Untersuchung der benthischen Reaktion ist äußerst wichtig, da die Speicherung von Kohlenstoff im Benthos eine wichtige Rückkopplung für das Klimasystem darstellt“, sagt Pineda-Metz, der die benthische Reaktion für seine Postdoc-Arbeit untersuchen möchte. „Unsere Studie zeigt auch, wie wichtig eine langfristige ökologische Überwachung in einer Region ist, die empfindlich auf Erwärmung reagiert“, fügt Richter hinzu.
Die Studie erscheint unter dem folgenden Titel:
Santiago Peneda-Metz, Dieter Gerdes, Claudio Richter, “Benthic fauna declined on a whitening Antarctic continental shelf”, Nature Communications, 10.1038/s41467-020-16093-z.
Hinweise für Redaktionen:
Ihr wissenschaftlicher Ansprechpartner im Alfred-Wegener-Institut ist Claudio Richter, Tel: +49 (471) 4831 1304 (E-Mail: Claudio.Richter(at)awi.de).
Ihre Ansprechpartnerin in der Pressestelle des Alfred-Wegener-Institutes ist Ulrike Windhövel, Tel: +49 (471) 4831 2008 (E-Mail: Ulrike.Windhoevel(at)awi.de).
Druckbare Bilder finden Sie in der Online-Version dieser Pressemitteilung: https://www.awi.de/ueber-uns/service/presse.html
Das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der gemäßigten sowie hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 19 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.
https://doi.org/10.1038/s41467-020-16093-z
Ansicht des Meeresbodens direkt unter dem Mehrfachgreifer
Foto: Alfred-Wegener-Institut / Dieter Gerdes
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Meer / Klima
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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