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14.08.2020 09:00

Datenspende für die medizinische Forschung

Dr. Boris Pawlowski Presse, Kommunikation und Marketing
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

    In einem Gutachten für das Bundesgesundheitsministerium sprechen sich Kieler Wissenschaftler für ein Widerspruchsmodell aus.

    Wie können Daten, die im klinischen Alltag ohnehin anfallen, ethisch unbedenklich für die medizinische Forschung genutzt werden? Welche rechtlichen, informationstechnologischen und organisatorischen Rahmenbedingungen sind dafür notwendig? Diesen Fragen widmeten sich fünf Experten verschiedener Fachrichtungen in einem wissenschaftlichen Gutachten, darunter der Jurist Professor Sebastian Graf von Kielmansegg und der Medizininformatiker Professor Michael Krawczak von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). Ende Juli hat das Bundesministerium für Gesundheit das Gutachten auf seiner Internetseite veröffentlicht.

    Worum geht es? Für die medizinische Forschung von großem Interesse sind auch Daten, die nicht speziell für die Forschung in klinischen Studien erhoben werden, sondern die bei jeder Untersuchung oder Behandlung im klinischen Alltag entstehen und in den Krankenakten gespeichert sind. Diese Versorgungsdaten dürfen bisher nur dann zu Forschungszwecken genutzt werden, wenn die Betroffenen ihre Einwilligung erteilt haben. An den deutschen Universitätskliniken erhalten die Patientinnen und Patienten hierzu bei der Aufnahme eine Aufklärung und werden anschließend um Zustimmung zu dieser sogenannten Sekundärnutzung gebeten. Professor Michael Krawczak, der hierfür am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Kooperation mit der Medizinethik ein Verfahren initiiert und bereits vor fünf Jahren eingeführt hat, sieht dabei jedoch gewisse Schwachstellen. „Die schriftliche Aufklärung kann leicht in dem vielen Material untergehen, das Patientinnen und Patienten in der Klinik bekommen“, erklärt der Direktor des Instituts für Medizinische Informatik und Statistik an der Medizinischen Fakultät der CAU. „Das Verfahren ist zwar rechtskonform, aber nicht optimal. Vor allem wäre es besser, wenn Aufklärung und Einwilligung nicht in der unmittelbaren Drucksituation eines Krankenhausaufenthaltes stattfinden würde.“

    Datenspende erfordert umfangreiche Aufklärung

    Ähnlich sieht es auch Professor Sebastian Graf zu Kielmansegg, der an der CAU Öffentliches Recht und Medizinrecht lehrt und dem Vorstand des Arbeitskreises Medizinischer Ethikkommissionen angehört „Die Patienten sind in dieser Situation damit schnell überfordert. Sie gehen ins Krankenhaus, weil sie ein gesundheitliches Problem haben und behandelt werden müssen, warten auf eine Operation oder eine Untersuchung. Sie müssen ohnehin viele Dokumente unterschreiben und dann bekommen sie auch noch ein Formular zum Thema Forschung. Das ist eine beträchtliche Belastung. Die Texte sind fünf bis zehn Seiten lang und inhaltlich anspruchsvoll. Da liegt es nahe, dass das Formular entweder blind oder gar nicht unterschrieben wird. In beiden Fällen ist man vom Ideal einer wirklich autonomen Entscheidung recht weit weg.“

    Eine Empfehlung der Gutachter ist daher, den Vorgang der Datenspende zeitlich und räumlich vom Kontext einer medizinischen Behandlung zu entkoppeln. Das sei vermutlich der denkbar schlechteste Moment, um Betroffene mit so etwas zu konfrontieren, sagt der Medizinrechtler.

    Als Alternative zum derzeit praktizierten Einwilligungsmodell schlägt das Gutachten vor diesem Hintergrund ein Widerspruchsmodell vor. Bei dieser Variante wird die Zustimmung der Patientinnen und Patienten zur Sekundärnutzung ihrer Versorgungsdaten für die medizinische Forschung vorausgesetzt, es sei denn sie wird explizit verweigert. „Dafür müsste eine gesetzliche Regelung geschaffen werden, wonach Daten, die bei der Versorgung in Universitätskliniken entstehen, auch der medizinischen Forschung zur Verfügung stehen. Und wer das nicht will, der kann dem niedrigschwellig widersprechen. Das wäre ein Konzept der Datenspende“, so Krawczak. „Unbestritten ist, dass man nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweggehen will. Das Grundgebot der Autonomie wird auch in dem Widerspruchsmodell, das wir in dem Gutachten vorschlagen, aufrechterhalten“, ergänzt von Kielmansegg. „Eine Widerspruchslösung ergibt nur dann Sinn, wenn man auch die reale Chance hat, einen Widerspruch zu äußern. Dafür muss man genau das gleiche Maß an Information bekommen, das man auch im Einwilligungsmodell erhält. Man muss es aber nicht sofort verdauen, sondern wenn man Zeit hat, und dann äußert man sich generell dazu.“

    Datensicherheit als Voraussetzung für die Sekundärnutzung

    Aus Sicht des Kieler Rechtswissenschaftlers sollten außerdem die technischen Rahmenbedingungen stärker in den Mittelpunkt rücken. „Die Daten sollten so sicher wie möglich sein, in der Art und Weise wie sie gespeichert und weitergegeben werden oder wie die Zugriffsrechte organisiert werden. Diese Dinge sind unabhängig von der Frage, ob man eine Zustimmungs- oder Widerspruchslösung hat. Aber je besser die Daten gesichert sind, desto eher kann man Patientinnen und Patienten eine Datenspende zumuten“, betont von Kielmansegg.

    Auch aus anderen Gründen thematisiert das Gutachten die technischen Rahmenbedingungen. So sei es technisch ziemlich aufwändig, Versorgungsdaten für die Forschung nutzbar und standortüberreifend verfügbar zu machen. „Es ist ja mitnichten so, dass in allen Universitätskliniken die gleichen Programme laufen würden. Die Systemlandschaft ist sehr heterogen“, erklärt Krawczak. Als Vorstandsvorsitzender der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. (TMF) ist er an der Koordination der Medizininformatik-Initiative der Bundesregierung beteiligt. Ziel der Initiative ist es, durch innovative IT-Lösungen den Austausch und die Nutzung von Daten aus Krankenversorgung, klinischer und biomedizinischer Forschung über die Grenzen von Institutionen und Standorten hinweg zu ermöglichen. „Da hat sich inzwischen eine Menge getan. Aber es nützt ja wenig, die technischen Voraussetzungen für die Datennutzung zu schaffen, wenn anschließend die Rechtsgrundlage dafür fehlt.“

    Der politische Wille, hier etwas zu unternehmen, ist offenbar vorhanden. „Die Tatsache, dass Minister Spahn das Gutachten zur Veröffentlichung freigegeben hat, ist schon mal ein ermutigender Schritt. Das wäre wahrscheinlich nicht passiert, wenn es nicht auch grundsätzlich die Bereitschaft gäbe, das Thema Datenspende politisch aufzugreifen.“

    Weiterführende Information:
    Wissenschaftliches Gutachten
    „Datenspende“ – Bedarf für die Forschung, ethische Bewertung, rechtliche, informationstechnologische und organisatorische Rahmenbedingungen
    http://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Ministerium/Berichte/Gutachten_Datenspende.pdf

    Medizininformatik-Initiative:
    http://www.medizininformatik-initiative.de

    Bilder stehen zum Download bereit:
    http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2020/190-biobank.jpg
    Blut-, Stuhl-, Gewebe- oder DNA-Proben, die bei Untersuchungen in der Klinik entnommen wurden, werden für Forschungszwecke in Biobanken eingelagert. Vorausgesetzt: die Patientinnen und Patienten haben dem zugestimmt.
    © Thomas Eisenkrätzer, Uni Kiel

    http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2020/190-probenlager.jpg
    Probenlager der Biobank PopGen im Zentrum für Molekulare Biowissenschaften in Kiel. Die flüssigen Forschungsproben des UKSH Campus Kiel (z.B. Blut, Urin oder Blutbestandteile) lagern hier bei minus 80 Grad Celsius.
    © UKSH

    http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/portraitbilder/sebastian-von-kielmansegg.jpg
    Professor Sebastian von Kielmansegg ist Experte für medizinisches Forschungsrecht an der CAU und Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Medizinischer Ethikkommissionen.
    © privat

    http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/portraitbilder/michael-krawczak.jpg
    Michael Krawczak ist Professor für Medizininformatik an der Medizinischen Fakultät der CAU und Direktor des Instituts für Medizinische Informatik und Statistik, am UKSH, Campus Kiel.
    © privat

    Kontakt:
    Prof. Dr. Sebastian Graf von Kielmansegg
    Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Medizinrecht
    Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU)
    Telefon: 0431/880-1668
    E-Mail: skielmansegg@law.uni-kiel.de

    Prof. Dr. Michael Krawczak
    Institut für Medizinische Informatik und Statistik, UKSH, Campus Kiel
    Medizinische Fakultät der CAU
    Telefon: 0431/500-30700
    E-Mail: krawczak@medinfo.uni-kiel.de

    Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
    Presse, Kommunikation und Marketing, Dr. Boris Pawlowski, Text/Redaktion: Kerstin Nees
    Postanschrift: D-24098 Kiel, Telefon: (0431) 880-2104, Telefax: (0431) 880-1355
    E-Mail: presse@uv.uni-kiel.de Internet: www.uni-kiel.de Twitter: www.twitter.com/kieluni
    Facebook: www.facebook.com/kieluni Instagram: www.instagram.com/kieluni


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Sebastian Graf von Kielmansegg
    Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Medizinrecht
    Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU)
    Telefon: 0431/880-1668
    E-Mail: skielmansegg@law.uni-kiel.de

    Prof. Dr. Michael Krawczak
    Institut für Medizinische Informatik und Statistik, UKSH, Campus Kiel
    Medizinische Fakultät der CAU
    Telefon: 0431/500-30700
    E-Mail: krawczak@medinfo.uni-kiel.de


    Originalpublikation:

    www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Ministerium/Berichte/Gutachten_Datenspende.pdf


    Weitere Informationen:

    http://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/190-datenspende


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Informationstechnik, Medizin, Recht
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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