idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
20.08.2020 19:01

Mehr Morde an extrem heißen Tagen: Daten aus Russland deuten auf Zusammenhang von Klimawandel und Gewalt hin

Franz Kurz Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg (IOS)

    Extreme Hitze führt zu extremer Gewalt. Das legen Daten aus Russland nahe, die ÖkonomInnen u. a. vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg ausgewertet haben. Demnach ereignen sich in Russland an äußerst heißen Tagen mehr Morde und andere Tötungsdelikte. Wenn diese Tage auf ein Wochenende fallen, steigt das Risiko, getötet zu werden, insbesondere für erwachsene Frauen unter 60 Jahren stark an, was auf häusliche Gewalt hindeutet. Die anhaltende Erderwärmung könnte diese Probleme verschärfen, erläutern die ÖkonomInnen in einem Artikel für die renommierte Zeitschrift Economic Inquiry, in dem sie auch mögliche Gegenmaßnahmen beschreiben.

    Für die Studie haben die WirtschaftswissenschaftlerInnen einen bislang ungenutzten Datensatz mit amtlichen Angaben zu Temperaturen und Gewalttaten in 79 Regionen der Russischen Föderation zwischen 1989 und 2015 ausgewertet. In diesem Zeitraum kamen im Durchschnitt jährlich pro Million Einwohner 229,55 Menschen durch Tötungsdelikte ums Leben. Bei der Analyse der Daten zeigte sich, dass extremes Wetter signifikanten Einfluss auf Gewalttaten hatte: An Tagen mit einer Durchschnittstemperatur von mehr als 25 Grad Celsius in einer Region stieg die Zahl der Opfer tödlicher Gewalt pro Million Einwohner um 0,6. Das bedeutet, dass beispielsweise an einem sehr heißen Tag in Moskau rechnerisch mehr als 7 zusätzliche Gewaltopfer zu beklagen sind. Umgekehrt führten extrem niedrige Temperaturen zu keinem klaren Anstieg bei den Gewalttaten, wie in dieser Studie erstmals gezeigt werden konnte.

    „Da wir als eine Folge des Klimawandels auch mehr Wetterextreme und höhere Temperaturen erwarten, zeigt das noch einmal, wie umfassend die Konsequenzen und wie heftig die Folgen auch für den Einzelnen sein können – und zwar nicht nur in Russland. Denn Daten aus Russland helfen auch, allgemein die Auswirkungen extremer Temperaturen zu verstehen: Im Land gibt es fast alle Klimazonen, die täglichen Durchschnittstemperaturen bewegen sich zwischen -60 und +35 Grad. Was sich hier beobachten lässt, liefert deshalb Hinweise für viele andere Regionen der Welt“, erklärt Olga Popova, Ph.D, vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg. Sie hat die Daten zusammen mit Vladimir Otrachshenko, Ph.D (IOS), und Prof. José Tavares (Nova School of Business and Economics, Lissabon) ausgewertet.

    Risiko steigt am Wochenende stark an

    In einem zweiten Schritt untersuchten die ÖkonomInnen Geschlecht und Alter der Opfer tödlicher Gewalt sowie zeitliche Umstände. Demnach waren in absoluten Zahlen Männer an extrem heißen Tagen gefährdeter – bei ihnen war über alle Altersgruppen hinweg fast ein zusätzliches Gewaltopfer pro Million Einwohner (+0,91) zu verzeichnen, bei Frauen betrug der Anstieg ein Drittel davon (+0,32). Wenn ein heißer Tag auf ein Wochenende fiel, verdoppelte sich die Quote gegenüber heißen Wochentagen für beide Geschlechter in etwa. Allerdings ergaben sich dann gerade bei Frauen deutliche Unterschiede für einzelne Altersgruppen: So erhöhte sich das Risiko, getötet zu werden, an Wochenenden für Frauen bestimmter Altersgruppen deutlich: Bei den 25- bis 44-jährigen Frauen führte ein heißer Wochentag zu 0,53 Gewaltopfern zusätzlich pro Million Einwohner, ein heißer Wochenendtag zu 1,40. Bei der Gruppe der 45- bis 59-Jährigen waren es an heißen Wochentagen 0,59, an heißen Wochenendtagen 1,66. „Das lässt sich wohl mit häuslicher Gewalt erklären. An Wochenenden gibt es mehr Kontakte zwischen Frauen im erwerbsfähigen Alter und potenziell gewalttätigen Partnern. Allerdings ist das nur eine Vermutung, offizielle Statistiken fehlen weitgehend“, sagt Co-Autor Vladimir Otrachshenko.

    Mediziner oder Psychologen haben sich bereits häufiger mit einem möglichen Zusammenhang von Gewalt und extremen Temperaturen beschäftigt und erklären ihn unter anderem damit, dass Menschen mit erhöhter Ausschüttung von Stresshormonen auf solche Temperaturen reagieren. Die Studie ist nun – nachdem es bereits Auswertungen von Daten vor allem aus den USA zu Hitze und Verbrechen gegeben hat – die erste aus der Ökonomie, die Daten aus dem klimatisch vielfältigen Russland nutzt, um nicht nur einen Zusammenhang zwischen Hitze und Gewalt nachzuweisen. Gleichzeitig beziffern die AutorInnen auch konkrete sozioökonomische Kosten des Klimawandels. Demnach hätten die Menschen, die durch die erhöhte Gewalt an heißen Tagen ums Leben kommen, andernfalls noch durchschnittlich 28,48 weitere Jahre gelebt. Zu all dem menschlichen Leid kommt damit auch ein wirtschaftlicher Schaden, etwa durch den Verlust von Arbeitskraft. So bräuchte es einen Anstieg des regionalen BIP pro Kopf um 0,35 Prozent, um die negativen ökonomischen Auswirkungen eines heißen Tages zu kompensieren.

    Konsum von Vodka führt bei extremer Kälte zu mehr Gewalt

    Umgekehrt zeigen die Daten auch, welche Mechanismen die Zunahme der Gewalttaten bremsen könnten: Wo die Arbeitslosigkeit niedriger war, wurden an heißen Tagen tendenziell weniger Menschen ermordet. Dagegen spielte Alkoholkonsum eine etwas geringere Rolle als ursprünglich vermutet: In Regionen, in denen viel Vodka getrunken wurde, ließ sich ein Zusammenhang mit einer höheren Tötungsrate nur an besonders kalten Tagen ausmachen. Aus diesen Beobachtungen leiten die AutorInnen Ansätze ab, mit denen politisch Verantwortliche der Gewalt entgegenwirken könnten: mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, Regulierung von Alkoholkonsum. „Hier etwas zu unternehmen, ist sicher richtig“, erklärt Ökonomin Olga Popova. „Aber auf Dauer ist es mindestens genauso wichtig und vor allem am effektivsten, die Erderwärmung strikt zu begrenzen.“

    Medienkontakt:
    Franz Kurz
    0941/94 354-28
    presse@ios-regensburg.de


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    [Englischsprachig] Olga Popova
    Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Arbeitsbereich Ökonomie am IOS
    Tel: 0941/94 354-13
    popova@ios-regensburg.de


    Originalpublikation:

    Originalpublikation (Open Access): Vladimir Otrachshenko, Olga Popova, Jose Tavares: Extreme Temperature and Extreme Violence: Evidence from Russia, in: Economic Inquiry (online first, 18. August 2020), https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/ecin.12936


    Bilder

    Die Ökonomin Olga Popova, Ph.D, vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung.
    Die Ökonomin Olga Popova, Ph.D, vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung.
    IOS/neverflash.com

    Der Ökonomin Vladimir Otrachshenko, Ph.D, vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung.
    Der Ökonomin Vladimir Otrachshenko, Ph.D, vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung.
    IOS/neverflash.com


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
    Wirtschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).