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31.08.2020 12:38

„Viele, die so sind wie ich“ lockten vor 50 Jahren Zehntausende zum „europäischen Woodstock“

Stephan Düppe Stabsstelle 2 – Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
FernUniversität in Hagen

    Vor 50 Jahren, vom 4. bis 6. September 1970, fand das erste mehrtägige Popfestival auf dem europäischen Kontinent statt: das „Love-and-Peace-Festival“ auf der Insel Fehmarn (hier trat Jimi Hendrix letztmalig vor seinem Tod am 18. September 1970 vor einem großen Publikum auf). Die Musik der 1960-er und 1970-er Jahre hat viele Veränderungen in Populärkultur und Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft ausgelöst, die bis heute wirken. Frank Hillebrandt, Soziologieprofessor an der FernUniversität in Hagen, befasst sich mit dem Festival auf Fehmarn, weil er die vielfältigen Auswirkungen von Rock und Pop erforscht. Dafür hat auch das „europäische Woodstock“ große Bedeutung.

    Vor 50 Jahren, vom 4. bis 6. September 1970, fand das erste mehrtägige Popfestival auf dem europäischen Kontinent statt: das „Love-and-Peace-Festival“ auf der Insel Fehmarn mit 25.000 bis 30.000 Besucherinnen und Besuchern. Traurige Berühmtheit erhielt es, weil Jimi Hendrix hier letztmalig mit einem Konzert vor einem großen Publikum auftrat, am 18. September 1970 starb die Musiklegende in London.

    Weniger bekannt ist, dass die Musik der 1960-er und 1970-er Jahre viele Veränderungen in Populärkultur und Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft ausgelöst hat, die bis heute wirken. Frank Hillebrandt, Soziologieprofessor an der FernUniversität in Hagen, erforscht die vielfältigen Auswirkungen von Rock und Pop. Daher hat für Prof. Dr. Hillebrandt und seine Mitarbeiterin Amela Radetinac im FernUni-Lehrgebiet Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie auch das „europäische Woodstock“ große Bedeutung. Hillebrandt schreibt zurzeit ein Theoriebuch über Ereignisse, für das er empirische Beispiele aufarbeitet: „Das Love-and-Peace-Festival ist ja ein Nachfolgeereignis zu Woodstock, das gar nicht so viele kennen.“

    „Europäisches Woodstock“ auf Fehmarn

    Angekündigt wurde das Insel-Ereignis mit einigen Bands, die bei dem Mega-Konzert in den USA aufgetreten waren, als „europäisches Woodstock“. Unter anderem traten Ginger Baker’s Air Force, Mungo Jerry, Sly and the Family Stone und Canned Heat auf, aber auch Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben – mit ihrem allerersten Live-Konzert – sowie andere deutsche Gruppen. Top Act war natürlich Jimi Hendrix, der allerdings sehr lange auf sich warten ließ und dadurch das Publikum zunächst verärgerte, „dann aber einen sehr guten Gig spielte“, so Hillebrandt.

    Das Festival verlief chaotisch, vor allem Regen und Sturm machten den Veranstaltern einen Strich durch die Rechnung. Einige Bands kamen nicht, die Technik funktionierte schlecht, Hamburger Rocker drangsalierten als „Ordner“ das Publikum. Die drei jungen Veranstalter standen anschließend vor einem riesigen Schuldenberg.

    Wichtiges Format des Rock und Pop

    Dennoch hat Hillebrandt großen Respekt vor ihrer Leistung, renommierte Bands und ganz besonders Hendrix verpflichtet zu haben. Dabei war die Veranstaltung mit geplant 75.000 Besucherinnen und Besuchern nicht einmal besonders groß, zum Isle of Wight-Festival waren kurz zuvor etwa 700.000 gekommen – mehr als zu „Woodstock“.

    Für den FernUni-Soziologen hat sich das Festival als Format trotz des Scheiterns auf Fehmarn etabliert. Die Zahl der Festivals hat seither weltweit stark zugenommen, vor dem Beginn der Corona-Pandemie waren es Tausende jährlich. So sind sie ein ganz wichtiges Format des Rock und Pop geworden, aber jetzt professionell organisiert: „Das Chaotische – Zelten im Schlamm etwa – wird heute zum Programm, das wissen die Leute vorher.“

    Um diesen Erfolg zu verstehen, arbeiten sich Frank Hillebrand und Amela Radetinac von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit. Woodstock und Monterey sind jedoch schon vielfach untersucht worden „und der Zugang ist auch nicht einfach“, erläutert Hillebrandt: „Zeitzeugen erzählen vor allem mythische Heldengeschichten. Diese Ereignisse sind für die empirische Forschung ‚verbrannt‘.“

    Wissenschaftlicher Zugang zu Fehmarn-Festival leichter

    Zum Ereignis auf Fehmarn ist der Feldzugang leichter: „Einmal, weil es eine ‚Fehmarn-Festival-Group‘ gibt, die sich der Erinnerung widmet. Dieser eingetragene Verein hat uns zwei ‚Veteranen‘ vermittelt, die wir interviewt haben. Zum anderen gibt es ein sehr schönes Inselarchiv.“ Auf der Insel lernten Hillebrandt und Radetinac auch zwei Einheimische kennen, die damals als Polizist und als Rettungsschwimmerin dabei waren. Mit der Musik und der Veranstaltung konnten sie wenig anfangen. Aber auch das Interview mit ihnen zeigte: „Das Festival war Subkultur und damit im Bewusstsein der Bevölkerung nichts Erinnerungswertes.“ Wohl aber für die, die dafür extra auf die Insel kamen.

    Gemeinsam und anders

    Dabei spielte aber nicht immer die Musik die wirklich entscheidende Rolle. Hillebrandt: „Entscheidender Grund für die Popularität eines Festivals ist, dass man viele um sich weiß, die ‚so sind wie ich‘. Das hört man auch von Woodstock-Zeitzeugen.“ Dagegen ist die Musik in der Erinnerung weniger wichtig. An welche Musik erinnerten die beiden Festival-Veteranen von einst sich noch? „Jimi Hendrix, natürlich, da bin ich auch mal aus meinem Zelt herausgekommen…“ Es ging nach Hillebrandts Worten also vor allem darum, mit vielen zusammen zu sein, „die man zu sich selbst zählt, und ein großes ‚Wir‘ zu haben“.
    Woodstock ist für Hillebrandt das beste Beispiel „für die Kunst, viele zu sein, die nichts mehr hatten, keine Nahrung, die sich trotzdem eine schöne Zeit machten“. So war es auch auf Fehmarn: „Die Voraussetzungen waren eigentlich so schlecht, wie sie nur sein konnten: Regen, Gewitter, nichts mehr zu essen, keine vernünftige sanitäre Versorgung. Aber man hat es gemeinsam hinbekommen.“ Amela Radetinac ergänzt: „Unsere beiden Interviewpartner erinnerten sich nicht mehr daran, wo sie gegessen haben und zur Toilette gegangen sind – das scheint für sie nicht zum Problem geworden zu sein.“

    Friedliebend, konstruktiv, wirkungsvoll

    Für Hillebrandt wollten die Hippies einfach ihren eigenen Weg gehen: „Was die anderen machten, war ihnen eigentlich egal. Sie wollten der Welt zeigen: Wir wollen es nicht so machen wie Ihr – um neun ins Büro und um fünf wieder raus. Zerstören wollten sie nichts. Sie waren friedliebend und konstruktiv, gegen den Vietnam-Krieg und gegen den Mainstream.“ So waren auch ihre Festivals nichts, was es vorher gab.

    Was sie bewirkten ist, so Hillebrandt, vielerorts zu erkennen: „Es anders zu machen hat sich ja sogar in der heutigen Ökonomie durchaus durchgesetzt! Wo gibt es in der Arbeitswelt noch solch hierarchische Strukturen wie früher? Die digitalen Neugründungen der letzten Jahrzehnte haben sich sehr stark auf die Hippie-Kultur bezogen. Es gibt Kolleginnen und Kollegen in der Soziologie, die sagen, das Silikon Valley sei eigentlich ein Ausfluss von Woodstock, weil erst die wenig hierarchische Arbeitsstruktur die ganze Kreativität hervorgebracht habe.“ In Gesellschaft und Politik sieht er einen direkten Weg von ihnen über die Sponti-Bewegung zu den Grünen.

    In diesem Zusammenhang kommt Hillebrandt noch darauf zu sprechen, dass nach einer immer stärker werdenden These in der Soziologie die „Festivalisierung“ gegenwärtig stark zunehme: „Man macht z.B. Stadtplanung immer mehr im Festival-Format – ‚Schaff‘ mal ein Festival in die Stadt, dann bekommen wir auch eine vernünftige Stadt. Oder man macht Politikveranstaltungen wie ein Pop-Konzert.“

    Die Erinnerungskultur in der Musik

    Für Musik ist Erinnerung – auch an das Festival auf Fehmarn – äußerst wichtig, so der Forscher: „In der Erinnerungskultur muss man eine ‚Gründungsphase‘ haben. Etwa, indem man die ‚Heiligen der Musik‘ wie Hendrix auf ein Podest hebt.“

    Die Popmusik braucht diese Personifizierung und die Erinnerungen an die Ereignisse als Fundament, um sich weiter reproduzieren zu können: Wer, der dabei war, wird nicht sagen, er habe sein ‚eigenes Woodstock‘ erlebt? „Hendrix‘ letzter Auftritt ist nicht zuletzt der Grund dafür, dass man sich noch heute des Festivals so stark erinnert“, so Hillebrandt. „Es wird sehr personifiziert. Wie wäre wohl die Erinnerungskultur, wenn er nicht gestorben wäre?“ In filmischen Dokumentationen rückte der Rock- und Bluesmusiker – wie Hillebrandt und Radetinac feststellten – im Lauf der Jahre immer mehr in den Mittelpunkt. Hendrix wird zu einer Ikone der Popkultur.

    Fundament für neues Format

    Ein Fundament war das neue Format aber auch für weitere Veranstaltungen dieser Art. Hillebrandt: „Darauf aufbauend wurden neue Konzerte organisiert, weil man sich sicher sein konnte, dass es genügend Interessierte gibt.“

    Die damaligen Organisatoren hatten offensichtlich zur richtigen Zeit die richtige Idee gehabt. Frank Hillebrandt: „Wenn man jetzt noch einmal mit ‚Chaos-Festivals‘ neu anfangen würde, würde das wahrscheinlich nicht klappen. Der Zeitgeist ist einfach nicht danach. Damals hat man es einfach so gemacht, als Rebellion, als Gegenkultur, als Ausstieg aus der Gesellschaft. Die wollten mit dem ganzen Kommerziellen und der ganzen vermieften Nach-Adenauer-Gesellschaft nichts mehr zu tun haben. Genau deswegen sind die beiden Teilnehmenden, die uns die Festival-Group für Interviews vermittelt hat, dahingegangen. Und die meisten anderen der 25.000 bis 30.000 auch.“

    Hinweis: Die Fehmarn Festival Group e.V. veranstaltet am 5. September 2020 eine Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des legendären Auftritts von Jimi Hendrix auf Fehmarn https://fehmarnfestivalgroup.com/news/


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Gesellschaft, Musik / Theater
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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