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Im menschlichen Gehirn sind hundert Milliarden Nervenzellen miteinander verknüpft, und nur wenn diese Verschaltungen richtig angelegt sind, kann es richtig funktionieren. Das ist bei Insekten nicht anders, auch wenn ihr Hirn „nur“ aus Hunderttausend bis eine Million Nervenzellen besteht. Das Gehirn entwickelt sich zum großen Teil im Embryo, aber in vielen Tieren vervollständigt es sich erst nach der Geburt. Ein Forscherteam der Universität Göttingen hat herausgefunden, dass Käferlarven anfangen ihr Hirn zu benutzen, obwohl es noch eine Baustelle ist. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift PLOS Biology erschienen.
(pug) Die Biologinnen und Biologen verglichen die Entwicklung des Gehirns von Fliegen und Käfern und nahmen dabei den so genannten „Zentralkomplex“ ins Visier – eine Struktur im Gehirn, die Insekten für ihre Orientierung in der Umwelt benötigen. Mit gentechnischen Methoden und Genom-Editierung markierten sie zunächst die gleiche kleine Gruppe von Nervenzellen sowohl in der Fruchtfliege als auch im Mehlkäfer. Damit konnten sie die Entwicklung dieser Zellen von Embryo bis zum erwachsenen Tier unter dem Mikroskop verfolgen und die Entwicklung zwischen den Tierarten vergleichen. Schon vor diesen Untersuchungen war bekannt, dass sich ein Teil des Zentralkomplexes bereits in der Käferlarve herausbildet, während er in Fliegen erst im erwachsenen Tier entsteht. Man dachte, dass die Entwicklung dieses Teils komplett vorgezogen wurde, um der Käferlarve das Laufen zu ermöglichen – Fliegenmaden brauchen diesen Teil nicht, da sie keine Beine haben.
Zu ihrer Überraschung fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber, dass dieser Teil des Gehirns in der Käfer-Larve anfängt zu arbeiten, obwohl er noch nicht so ausgereift ist, wie im erwachsenen Tier. Ganz im Gegenteil – die Struktur entspricht eher einem embryonalen Entwicklungsstadium, das man von anderen Insekten kennt. Der Unterschied ist, dass in der Käferlarve die Nervenzellen dieser Hirn-Baustelle bereits Verbindungen eingehen, womit sich die Larve vermutlich in ihrer Umgebung orientiert. „Ich hatte erwartet, eine Miniatur-Ausgabe des erwachsenen Zentralkomplexes zu finden – aber nicht, dass eine Baustelle anfängt zu arbeiten,“ drückt Erstautor Max Farnworth, Doktorand in der Abteilung Evolutionäre Entwicklungsgenetik der Universität Göttingen, seine Überraschung aus.
Die zweite große Überraschung war, dass sich im Käfer die Reihenfolge der Entwicklungsschritte des Gehirns verändert hatte. Bisher dachte man, dass die Entwicklungsschritte immer in der gleichen Reihenfolge ablaufen – dass sich lediglich der Zeitpunkt verschieben kann, zu dem der Schritt abläuft. Dies wird in der Evolutionsbiologie Heterochronie genannt. Im Embryo des Käfers wurden jedoch manche Entwicklungsschritte vorgezogen – zum Beispiel die Ausbildung von Überkreuzungen von Nervenzellen und die Ausbildung von Synapsen, während andere Schritte wie in der Fliege später stattfanden.
„Wir haben das erste Beispiel einer Veränderung der Entwicklungs-Reihenfolge im Gehirn entdeckt, eine so genannte Sequenz-Heterochronie“, erläutert Letztautor Prof. Dr. Gregor Bucher, Leiter der Abteilung Evolutionäre Entwicklungsgenetik. „Die Entwicklung der Gehirne ist wohl wesentlich variabler, als wir uns das vorstellen konnten. Das könnte erklären, wie Insekten ihre Gehirne so vielfältig an die Anforderungen der Umwelt anpassen konnten.“
Prof. Dr. Gregor Bucher
Georg-August-Universität Göttingen
Fakultät für Biologie und Psychologie
Abteilung Evolutionäre Entwicklungsgenetik
Justus-von-Liebig-Weg 11, 37077 Göttingen
Telefon (0551) 39-5426
E-Mail: gbucher1@uni-goettingen.de
Internet: www.uni-goettingen.de/de/434385.html
Max Farnworth et al. Sequence heterochrony led to a gain of functionality in an immature stage of the central complex: A fly–beetle insight. PLOS Biology 2020. Doi: https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3000881
Roter Mehlkäfer Tribolium castaneum: Der "Zentralkomplex" im Gehirn wird bereits gebildet, wenn er ...
Foto: G Bucher
Prof. Dr. Gregor Bucher
Foto: Universität Göttingen/CM
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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