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Wissenschaft
Ein Forschungsverbund um das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) hat ein neues Methodeninventar erarbeitet, mit dem sich arbeitsbezogene Gefährdungen des Muskel-Skelett-Systems präzise bestimmen lassen. Damit haben Fachleute aus Ergonomie, Medizin und ähnlichen Disziplinen ab sofort die Möglichkeit, Muskel-Skelett-Belastungen jeder Art präzise zu beurteilen und auf dieser Grundlage wirksame Präventionsmaßnahmen abzuleiten.
Krankheiten und Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems verursachen gut ein Fünftel aller Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland. Sie gehören auch zu den häufigsten anerkannten Berufskrankheiten. Zielgerichtete Prävention solcher Gesundheitsprobleme setzt voraus, dass sich die zugrundeliegenden körperlichen Belastungen so genau wie möglich erfassen und beurteilen lassen. Dabei hilft ein neues Methodeninventar unter https://www.dguv.de/ifa/publikationen/reports-download/reports-2020/dguv-report-..., das ein Forschungsverbund um das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) erarbeitet hat: Arbeitsbezogene Gefährdungen des Muskel-Skelett-Systems lassen sich damit auch dann präzise bestimmen, wenn die Belastungen komplex sind und einfache Screening-Verfahren nicht mehr ausreichen.
Im Jahr 2018 entfielen laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales 125 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage auf Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes. Im selben Jahr registrierte die gesetzliche Unfallversicherung 457 neue anerkannte Berufskrankheiten allein aufgrund von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch Heben, Tragen und Zwangshaltungen des Oberkörpers. Neben den damit verknüpften volkswirtschaftlichen Kosten bedeuten Schädigungen des Bewegungsapparates durch körperliche Fehlbelastungen bei der Arbeit immer auch einen Verlust von Lebensqualität für die Betroffenen.
„Belastungssituationen in der Praxis, die das Muskel-Skelett-System fordern, sind oft sehr komplex und lassen sich dann nicht mit einfachen, beobachtungsbasirten Methoden erfassen“, sagt Dr. Britta Weber, Projektverantwortliche beim IFA. „Andererseits wissen wir: Je präziser die Belastungsermittlung, desto genauer die Gefährdungsbeurteilung und desto zuverlässiger die Ableitung wirklich wirksamer Maßnahmen.“
In einem arbeitsteiligen Gemeinschaftsprojekt "Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz - MEGAPHYS" stellte das IFA verfügbare Methoden auf den Prüfstand, zusammen mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), dem Institut für Arbeitswissenschaft der Technischen Universität Darmstadt (IAD) und dem Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der Technischen Universität Dortmund (IfADo).
Weber: „Wir haben gemeinsame Bewertungsmaßstäbe und ein abgestimmtes Risikokonzept für alle Verfahren definiert, die bestehenden Verfahren verbessert, sie um neue Anwendungsfelder ergänzt, die Methoden untereinander stärker vernetzt und alle Instrumente nicht nur im Labor, sondern auch in einer großen Feldstudie an 200 Arbeitsplätzen mit 800 Beschäftigten erprobt und validiert.“
Das IFA erarbeitete und evaluierte in diesem Rahmen Bewertungsalgorithmen für messtechnisch ermittelte Muskel-Skelett-Belastungsdaten. Die Algorithmen basieren auf der biomechanischen Analyse von Bewegungen und Kräften und der leistungsphysiologischen Betrachtung von Anpassungsreaktionen des Körpers auf die Belastung. Nun liegen insgesamt 28 Bewertungsverfahren für verschiedene Körperregionen vor: vom Nacken bis zum Knie sowie für das Herz-Kreislauf-System.
Das mit Projektabschluss verfügbare Methodeninventar lässt unterschiedlich detaillierte Beurteilungen für unterschiedlich komplexe Arbeitsaufgaben zu. Damit haben Fachleute aus Ergonomie, Medizin und ähnlichen Disziplinen ab sofort die Möglichkeit, Muskel-Skelett-Belastungen jeder Art präzise zu beurteilen und auf dieser Grundlage wirksame Präventionsmaßnahmen abzuleiten.
Zum Report: https://www.dguv.de/ifa/publikationen/reports-download/reports-2020/dguv-report-...
Hintergrund
Projektziel und -partner
Zwischen 2013 und 2020 kooperierten Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) im Projekt Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz (MEGAPHYS). Ziel der Forschung war ein umfassendes, wissenschaftlich fundiertes, harmonisiertes Methodeninventar für die betriebliche Gefährdungsbeurteilung bei physischen Belastungen: bei manueller Lastenhandhabung, repetitiven Arbeitsprozessen, kraftbetonten Tätigkeiten, Zwangshaltungen und bewegungsintensiven Aufgaben sowie bei kombinierten Belastungen im Falle von Mischarbeit.
Die Forschungsarbeiten erfolgten im Verbund mit Fachleuten aus den Bereichen Arbeitswissenschaft, Arbeitsmedizin, Biomechanik, Ergonomie und Arbeitsphysiologie. Beteiligt waren neben dem IFA folgende Stellen:
• Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
• Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie (ASER)
• Institut für Arbeitswissenschaft der Technischen Universität Darmstadt (IAD)
• Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo)
• ARBMEDERGO
Gefördert wurde das Projekt von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und der BAUA.
Arbeitspakete
Das Gemeinschaftsvorhaben gliederte sich in sieben Arbeitspakete (AP): Als Grundlage für die Untersuchungen diente eine Literaturrecherche zu vorhandenen Analyse-, Bewertungs- und Beurteilungsverfahren (AP 1) sowie eine Zustandsanalyse des Vorkommens physischer Belastungen in der Arbeitswelt (AP 2). Darauf aufbauend wurden Vorentwürfe für Bewertungsmodelle zu unterschiedlichen Risikofaktoren (z. B. Heben, Tragen, Ziehen oder Schieben von Lasten, Repetition, Kraftaufwendung), Zielregionen (z. B. Rücken, obere und untere Extremitäten), Zielgruppen (z. B. Unternehmer, Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Wissenschaftler) und Komplexitätsgraden (z. B. einfaches Screening, messtechnische Analyse) abgeleitet (AP 3). Im AP 4 erprobten in der Praxis verschiedene Anwendergruppen (z. B. Sicherheitsfachkraft, Meister) die Methodenvorentwürfe, die anschließend nochmals angepasst (AP5) und schließlich in einer umfangreichen Querschnittstudie evaluiert (AP 6) wurden. Hierzu gab es arbeitswissenschaftliche Analysen und Bewertungen der Belastungssituation an etwa 200 Arbeitsplätzen mithilfe des entwickelten Methodeninventars. Parallel wurden an den Arbeitsplätzen mehr als 800 Beschäftigte zur Belastungs- und Beschwerdesituation befragt; medizinisches Personal untersuchte außerdem die Muskel-Skelett-Gesundheit der Befragten. Abschließend wurden die Ergebnisse zusammengefasst, dokumentiert und gewertet (AP 7).
Fachliche Verantwortungen
IFA
Für das IFA lag der Fokus der Methodenentwicklung auf der messtechnischen Analyse von Belastungsdaten mit dem IFA-eigenen CUELA-Messsystem (vgl. Meldungstext).
Daneben koordinierte das IFA die Kooperationspartner IAD und IfADo, die ihrerseits mit der Weiterentwicklung von Experten-Verfahren befasst waren.
IAD
Das IAD überarbeitete bestehende Experten-Screening-Instrumente mit dem Ziel einer breiteren Anwendbarkeit, erprobte und evaluierte sie in der Praxis. Dabei integrierte das IAD beispielsweise weitere Belastungsarten (Körperfortbewegung), ergänzte die Bewertung von heterogenen Last- bzw. Kraftfällen und setzte diese in rechnergestützte Tools um („Megaphys-MonKras“, „Megaphys-MultipLa”). Die so entstandenen Methoden sind auf der IAD-Website verfügbar: https://www.iad.tu-darmstadt.de/forschung_iad/forschungsgruppen_iad/abg_iad/meth...)
IfADo
Mit Blick auf Labormessungen und -simulationen entwickelte das IfADo Methoden und Werkzeuge so weiter, dass den biomechanischen Auswirkungen physischer Belastungen auf das Muskel-Skelett-System und insbesondere auf die Wirbelsäule besser Rechnung getragen wird. Besonders hervorzuheben ist die Kopplung der Systeme Der Dortmunder (räumlich-dynamisches biomechanisches Modell zur Quantifizierung der Lumbalbelastung für einzelne Aktionen) und CUELA (https://www.dguv.de/ifa/fachinfos/ergonomie/cuela-messsystem-und-rueckenmonitor/...), die Weiterentwicklung eines Lumbalbelastungsatlas, die Definition geeigneter Kenngrößen und Bewertungskriterien der situativen und kumulativen Rückenbelastung, die lumbal-biomechanische Evaluation von Screening-Werkzeugen sowie die Ableitung der Revidierten Dortmunder Richtwerte.
Ergebnisdarstellung
Der vom IFA vorgelegte Ergebnisbericht beschreibt alle Neu- und Weiterentwicklungen und Evaluationen der Experten-Verfahren (Experten-Screening, messtechnische Analyse im Feld und Labormessung/-simulation). Solche Methoden sind immer dann erforderlich, wenn die Belastungssituation komplex ist und mit einfacheren, meist beobachtungsbasierten Verfahren nicht zuverlässig beurteilt werden kann.
Die BAuA hat ihren Forschungsanteil, die Neu- bzw. Weiterentwicklung von sechs Leitmerkmalmethoden, in einem eigenen Bericht publiziert: https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/F2333.html
Als Ergebnis des Gemeinschaftsprojekts MEGAPHYS steht dem präventiven Arbeitsschutz ein abgestimmtes Paket von in Feld und Labor erprobten und evaluierten Instrumenten zur Gefährdungsbeurteilung bei physischer Belastung zur Verfügung. Die unterschiedlichen Detaillierungsgrade der neu- und weiterentwickelten Methoden gewährleisten, dass den unterschiedlichen Erfordernissen der Praxis hinsichtlich Genauigkeit und Komplexität der Belastungsanalyse entsprochen wird.
Dr. Britta Weber, Prof. Dr. Rolf Ellegast, Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA)
Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz - MEGAPHYS: https://www.dguv.de/ifa/publikationen/reports-download/reports-2020/dguv-report-...
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Medizin, Sportwissenschaft
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch
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